Six Miles

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Als ich sah, dass er seinen Mund nicht mehr bewegte, ließ ich meine Hände von meinen Ohren ab.

Jared sah mich mit einem Blick an, den ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Ich wusste nicht, was in seinem Blick lag, doch bevor ich es deuten konnte, schloss er seine Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er auf die Asche, die er von seiner Zigarette schnippte.

"Du brauchst mich nicht begleiten. Dieser Ortsteil ist ein Kindergarten, wenn man ihn mit der Gegend vergleicht, wo mein Dad und ich gelebt haben." Ich strich eine Strähne meiner Haare hinter mein Ohr.

Neugierig blitzte das Grün seiner Augen auf. "Wo habt ihr denn gelebt?", fragte er.

"In Miami und LA. Und nicht auf der glamourösen Seite, sondern eher im Ghetto." Ich gab auf und verlangsamte mein Tempo. Er würde sich nicht von mir abhängen lassen, egal wie schnell ich ging.

Er zog seine Augenbrauen zusammen. "Du wirkst eher wie so ein Vorstadtmädchen, das in ihrer Kindheit Mittwochs zum Reiten und Freitags zum Ballett gegangen ist."

"Tja", seufzte ich. "Ich wünschte es wäre so. Als Kind war Ballett immer mein Traum."

"Seit wann lebst du hier, bei Mr Sanders?", fragte er. "Und warum wohnst du nicht mehr bei deinem Dad?"

Eigentlich wollte ich sein "das geht dich einen Scheiß an" zurück spucken, doch klang seine Stimme so ehrlich und unschuldig, dass ich es einfach nicht konnte. Außerdem tat es gut, mit jemanden darüber zu reden. Irgendwie schien es niemanden zu interessieren, warum ich plötzlich hier war und wie meine Vergangenheit aussah. Aber Jared schon. Der Weg würde zu Fuß noch ein paar Minuten dauern und es sah nicht so aus, als würde er sich von mir verjagen lassen. Also erzählte ich ihm, was er wissen wollte.

"Seit diesem Sommer wohne ich bei Drew." Ich schluckte und überlegte, ob ich ihm wirklich sagen sollte, dass mein Dad im Gefängnis saß. Würde er es den anderen erzählen und mich damit demütigen? Aber sein Bruder ist auch im Gefängnis gewesen. Er wusste also, wie hart das war. Vielleicht war er wirklich der einzige, der mich in dieser Hinsicht verstehen könnte. "Weil ich hier studieren wollte, hier aufgewachsen bin ..."

Er bemerkte mein Zögern.

"Das ist doch nicht alles, oder?", hakte er nach.

Ich schüttelte langsam den Kopf. "Mein Dad sitzt im Knast. Deshalb wurde ihm das Sorgerecht genommen. Und deshalb wohne ich jetzt bei Drew."

Er schwieg, ich schwieg.

"Oh", kam es nur von Jared und es war merkwürdig, ihn so sprachlos zu erleben. "Und deine Mom?"

"Tot", sagte ich platt.

"Da haben wir ja doch was gemeinsam", sagte er und lachte traurig. Er ließ seine Zigarette fallen und trat sie aus.

Irgendwie tat es gut, nicht bemitleidet zu werden. Es war mehr als merkwürdig, doch ich fühlte mich Jared plötzlich verbunden. Mehr noch, als ich es mir selber eingestehen wollte. Irgendwie wurde unser Gespräch intim und tiefer, als ich mir ein Gespräch mit ihm je vorstellen konnte.

"Die guten Pillen...", flüsterte er, "haben sie uns genommen." Er konnte die Wut in seiner Stimme nicht verbergen, auch wenn er es versuchte.

Ich konnte nicht mal den Gedanken zulassen, wie meine Mom gestorben ist. Mein Gehirn schützte mich vor diesen einen Gedanken. Er war tief unten in meiner Seele vergraben.

"Wann bist du denn adoptiert worden, wenn ich das fragen darf", fragte ich, um ihn aus seinen dunklen Gedanken zu ziehen. Ich konnte es sehen, an der Art, wie seine Stirn in Falten gelegt war.

Er wollte mir nicht antworten. Er zögerte so lange, dass ich die Hoffnung auf eine Antwort aufgab. Ich überlegte mir eine neue Frage, um die drückende Stimmung irgendwie zu retten, doch auf die Schnelle fiel mir nichts ein.

Doch dann antwortete er doch.
"Als ich 6 war. Ich hatte noch Glück und wurde an eine Familie vermittelt. Je älter ein Kind ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, nicht an eine Familie, sondern an ein Heim vermittelt zu werden."

"Warum?", fragte ich perplex.

"Je jünger du bist, desto formbarer bist du. Je älter du bist, desto schwieriger wird es, dich an eine neue Familie zu gewöhnen. Mein Bruder war 12. Er kam ins Heim."

"Und wo ist er jetzt?"

"Manhattenstreet 101", murmelte Jared bitter. "Er hat seine eigene Zweizimmerwohnung in einem Wolkenkratzer."

"Ist doch gut, dass er selbstständig ist. Es hätte ja auch anders aussehen können."

"Gut ist was anderes. Er dealt. Und er wird auch im Knast enden, wenn er nicht aufhört."

Auch im Knast enden. Genauso wie mein Dad. Der auch gedealt hat. Wenn dealen nur sein einziges Verbrechen gewesen wäre ...

Aber zu Eliah konnte ich nichts sagen. Vielleicht war es in seiner Lage nicht so einfach, damit aufzuhören. Vor allem dann nicht, wenn er nichts anderes machte, als dealen. Ich wusste selber, dass es sich um schnelles Geld handelte. Die Nachfrage war hoch, aber nicht jeder hatte die Eier und die Lust, es zu verkaufen.

"Versuch es mal aus seiner Perspektive zu sehen. Du bist der kleine Bruder, der noch vor dem Heim gerettet werden konnte. Du wohnst in einem riesigen Haus mit Pool, fährst ein Auto, was wahrscheinlich teurer ist als seine Jahresmiete und studierst an einer angesehenen Uni. Du hast alles. Für ihn war es bestimmt nicht so einfach."

Das, was ich sagte, schien ihn wirklich zu verärgern. Er zündete sich eine nächste Zigarette an und raufte sich mit beiden Händen das Haar, während seine Kippe an seinen Lippen hin und her wippte. Seine Augenbrauen waren tief zusammengezogen. "Du kennst ihn nicht. Genauso wenig, wie du mich kennst. Also spar dir dein pseudopsychologisches Gelaber."

Ich verdrehte die Augen. War ja klar, dass ich gegen eine Wand redete. "Entschuldigung", sagte ich ergeben. "Ich hätte nicht gedacht, dass dich das so trifft."

Er schüttelte nur genervt den Kopf.

Irgendwie genoss ich es, mit ihm zusammen nach Hause zu gehen. Er musste mich nicht begleiten, doch er tat es. Und das, obwohl er mich nicht wirklich zu mögen schien. Aber irgendwie, begann ich ihn zu mögen. Ich meine, zu verstehen. Und ich wollte mehr über ihn erfahren. Selbst wenn der Weg noch 12 Meilen weit wäre ...

Aber es dauerte nicht mehr lang, mein Haus lag am Ende der Straße.

Und da erst fiel es mir auf.

Ich hatte meinen Haustürschlüssel Zuhause vergessen.











Catch me if I fallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt