Jared

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Bleib, bleib, bleib.

Diese Worte habe ich gefleht, als ich im Krankenhaus neben dir saß. Doch dabei warst du schon längst weg. Die ganzen Versuche, dich wieder zu beleben, waren zwecklos.

Sie haben mich allein an deinen Sarg gelassen, um mich zu verabschieden. Ich habe dich nicht einmal angesehen, denn ich wollte dich nicht tot in Erinnerung halten. Du verfolgt mich doch schon lebendig in meinen Träumen.

Der 11. Januar, dein Todestag. Der Tag, der für mich nie endete. Das hier ist der kälteste Winter überhaupt - und ich weiß, dass er selbst im Hochsommer nicht vorbei sein wird.

An deinem Grab liegen mittlerweile mehr Zigarettenstummel als Blumen - dein verwesender Körper unter der Erde ist also in guter Gesellschaft.

Ich bin froh, dass ich dich kennen lernen konnte. Du hast mir einen Sinn gegeben. Du bist so gewöhnlich und doch so anders. Ein Mädchen, das mein Herz auf eine Weise gestohlen hat, die ich nie für möglich gehalten hätte.

Ein Mädchen, das Angst vor Gewitter und Quallen hat. Das hässliche Möbel sammelt und daraus etwas schönes kreieren kann. Das peinliche Schreibratgeber liest und den Duft von Kaffee schätzt, ohne ihn zu trinken. Ein Mädchen, welches mich mit ihren Lächeln angesteckt hat und dessen Träume meine wieder belebt haben.

Ein Mädchen, welches mit mir in Turnschuhen durchs Meerwasser läuft, oder mit mir bekifft auf Hochhausdächern das Farbenspiel des Himmels beobachtet.

Du eben, Carmen.

Und jetzt bist du einfach nicht mehr da. Aber ich habe dich schon lange vor deinem Tod verloren. Die Zeit, in der alles gut lief, war viel zu kurz.

Die Eingravierungen in deinem Grabstein machen das ganze realer und jagen mir einen Schauer über den Rücken.

R.I.P. Carmen Elizabeth Haverlin

Allein, dass du einen Zweitnamen hattest, von dem ich nichts wusste, lässt mich meine Hände zu Fäusten ballen. Es gibt so viel, was ich noch nicht über dich weiß. So viel, was es an dir noch zu erkunden gäbe.

Ich hätte dich nicht weg schicken sollen. Die Leute auf der Beerdigung haben mich angesehen, als wäre es meine Schuld. Und ich habe das Gefühl, dass sie Recht haben.

Ich habe dich fallen gelassen, obwohl du das einzige in meinem Leben warst, was es wert war, fest gehalten zu werden.

Ich habe dich weinen gehört, verdammt. Fuck. Meine Faust landet in der Rinde der Eiche, die  direkt neben deinem Grab wächst.

Einzelne hölzerne Splitter dringen in die Haut meiner Fingerknöchel, doch bin ich zu taub, um es überhaupt wahr zu nehmen.

Dieser Verlust hätte nicht sein müssen, es hätte verhindert werden können. Ich war nicht da.

Die Kälte in meinen Herzen breitet sich in jeden meiner Glieder aus. Ich bin wütend auf mich, wütend auf meinen Bruder und vor allem wütend auf dich.

Verdammt, ich weiß, dass es kein Unfall war. Ich weiß, dass du bewusst viel zu viel von dem Zeug genommen hast. Das lässt mich dich noch viel mehr hassen.

Ich beiße meine Zähne hart aufeinander. "Bist du zufrieden?", zische ich und kaue auf den Zigarettenstummel in meinem Mundwinkel herum. "War es denn schön, dein goldener Schuss?" Ich kann den Spott in meiner Stimme nicht verbergen, doch trotzdem spürte ich Wärme Tränen auf meiner brennend kalten Haut.

Ich lasse meine Hand vom Baumstamm ab. Das Blut tropft auf den mit Morgentau überzogenen Rasen und meine Lederstiefel herunter.

Wer hätte gedacht, dass das Mädchen mit dem gelben Sommerkleid, das zu brav war, um meinen Joint anzunehmen, mich zu diesen Punkt hier treiben würde?

All das, was wir hatten, wirkte wie ein schlechter Scherz. Ich hätte nie gedacht, dass du mich so ruinieren könntest. Ausgerechnet du - die fick dich sagt und es sich wie Zuckerwatte anhört.

Die Seele bietet viel mehr Angriffsfläche, als ein physischer Körper es könnte. Und Gedanken können härter treffen, als es Fausthiebe könnten. Ich würde lieber Blut kotzend am Boden liegen, als das hier durch zu machen.

Deine Beerdigung war der zweit schlimmste Tag meines Lebens. Ein Haufen Heuchler, der heulend aufeinander hängt und Sachen von sich gibt, wie: "Sie war noch so jung..." "Sie hatte das Leben noch vor sich." "Wie konnte das nur passieren?"

Mir entfährt ein zynsiches Lachen, was die Krähen in den Baumkronen erschreckt und sie krächzend, durch raschelnde Zweige, davon fliegen lässt.

Eliah war nicht dabei. Er war im Knast. Hat sich noch eine Träne tätowieren lassen. Und falls du dich fragst, was aus Drew geworden ist - er sitzt im Rollstuhl. Und ist jetzt auch im Gefängnis. Eliah hat dein Tagebuch aus seinem Schlafzimmer gestohlen und es den Richtern als Beweismaterial gegen ihn verwendet. 

Ich schnippe die Zigarette an deinen Grabstein und hole mir aus meiner Schachtel eine weitere. Diese platziere ich zwischen meine kaputten Lippen und zünde sie mit meinem Zippo an. Sie schmeckt nach Verzweiflung.

Catch me if I fallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt