Rex

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Die Sonne schien grell durch das Schrägdachfenster, als ich mich langsam wachblinzelte.

Mir war heiß und ich hatte in meine Klamotten hereingeschwitzt. Ich fühlte mich ekelhaft und wollte duschen und meine Zähne putzen.

Ich erhob mich und stieß dabei einen der vielen Kartons um, die hier im Zimmer standen. Ein großes, rotes Buch fiel dabei heraus. Es sah aus wie ein Fotoalbum.

Ich bückte mich und richtete den Karton wieder gerade. Dann hob ich das Buch vom Boden auf, aus dem plötzlich ein Foto herausfiel.
Ich konnte es noch halten, bevor es den Boden erreichte.

Stechend grüne Augen blitzten mir entgegen. Sie gehörten zu einem kleinen Jungen mit dunkelbraunem Haar. Er trug einen Pullover, der ihm viel zu groß war. Er lächelte, doch seine Augen sahen traurig aus. Das Foto war alt und hatte Eselsohren. Als ich es umdrehte, erkannte ich einen kleinen Text auf der Rückseite.

Jared Rex. Sommer 1999.
Hab dich lieb mein Schatz.

Rex? Das war wohl die Zeit, bevor er adoptiert wurde. Auf dem Bild musste er unter sechs Jahre alt gewesen sein. Vom Aussehen her hatte er sich kein bisschen verändert. Vorallem dieses freche Lächeln kam mit bekannt vor. Das einzige was anders war, war, dass er sehr groß geworden ist.

Ich setzte mich mit dem Fotoalbum zurück aufs Sofa und schlug es auf. Ich wusste, ich sollte nicht. Aber irgendwie war ich neugierig.

Auf der ersten Seite waren gleich vier Fotos. Auf einem Bild befand sich ein graues, schon längst aus der Mode gekommenes Stoffsofa. Darauf saß ein kleiner Jared, der grinsend eine dicke Fernbedienung in der Hand hielt. Seine Haare waren etwas länger und verwuschelt. Auf der Sofalehne saß eine junge, hübsche Frau mit einer lila Leggins. In ihrem Mundwinkel hing eine glühende Zigarette und ihr dunkelbraunes Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden.

Auf einem anderen Foto waren zwei kleine Jungen und die selbe Frau abgebildet, wie auf dem vorherigen Bild. Ich vermutete, dass es sich um Jared's Mutter handelte. Die beiden Jungs waren Jared und Eliah. Eliah war zwei Köpfe größer als Jared. Seine Haare waren kurz und an seinen Beinen hatte er viele blaue und grüne Flecken. Die Frau schielte lächelnd über den Rand ihrer Sonnenbrille und hatte ihre gebräunten, zierlichen Arme um die Schultern der beiden Jungs geschlungen. Sie lächelten beide nicht. Besonders der ältere der beiden sah unzufrieden aus. Er hatte Sorgenfalten auf der Stirn und sah zu der Frau auf, die seine Mutter zu sein schien.

Auf einem weiteren Bild war ein Mann mit dunklem Haarschopf und drei-Tage-Bart zu sehen. Seine Brustbehaarung lugte aus seinem weißen Shirt, das einige Löcher am Bauch und unter den Ärmeln hatte. Er saß auf dem grauen Sofa und hielt in der einen Hand ein Bier und in der anderen Hand eine Knarre. Auf der anderen Seite des Sofas saß die Frau, die auch auf den anderen Bildern zu sehen war. Sie hatte stürmisches Haar und auf ihrem Schoß lag ein Baby, das sie gerade an ihrer Brust stillte. Das karierte Hemd, was sie trug, war viel zu groß und hing ihr von der Schulter. Vielleicht gehörte es dem Mann auf dem Bild. Dem Vater von Jared und Eliah?

Die Schritte auf den Treppen brachten mich zurück in die Realität. Ich schlug reflexartig das Buch zu und erhob mich, um es zurück in den Karton zu legen. Doch bevor ich so weit kam, öffnete sich die Tür und Jared stand am Türrahmen.

"Carmen?", fragte er, als er in den Raum kam. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, doch stockte dann.

Mit offenen Mund sah er erst mich und dann das Album an, das ich in meinen Händen hielt. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Ohne noch länger zu zögern, kam er auf mich zu und riss mir das Buch aus den Händen. "Was zum Fick tust du da?", fuhr er mich an. Fassungslos schüttelte er den Kopf. "Du bist doch gestört. Verschwinde von hier."

Er blickte auf das rote Buch und steckte es in einen der Kartons zurück.

Mein Herz raste in meiner Brust und man konnte deutlich meinen schweren Atem hören.

"Was stehst du hier noch so blöd rum?!", keifte er. Seine Stirn war in Falten gelegt und seine Augenbrauen zusammengezogen. "Verzieh dich!", schrie er mich an, so dass ich kurz zusammen zuckte und die Augen zu kniff.

Ohne ein Wort zu sagen nahm ich meine Strickjacke vom Sofa und ging an ihn vorbei, die Treppe herunter.

Ich war so dumm. Wie kam ich überhaupt auf die Idee, so herumzuschnüffeln. Das ging mich absolut nichts an und ich hatte es mir einfach angesehen.

Ich schlüpfte in meine Docs und verließ das Haus in schnellen Schritten.

Ich ging zur Bushaltestelle, von der Jared und ich gestern gekommen waren und fuhr zur Elizabethstreet, die Haltestelle in der Nähe meines Zuhauses.

Darauf hin ging ich auf die Treppen vor der Haustür zu und nahm auf einer der Stufen Platz. Gestern saß ich hier und hatte vor Jared geheult. Wie peinlich. Er hatte mir geholfen, als ich in Schwierigkeiten war. Und ich? Ich schnüffelte in seinen Kartons herum. Ich war wirklich verrückt.

Wenn ich lange genug hier saß und auf die vorbeifahrenden Autos schaute, würde mir schon eine Lösung einfallen.

Ein dunkler, mir bekannter VW Golf fuhr verdächtig langsam an der Straße entlang, bis er vor dem Haus gegenüber von mir hielt.

Durch das Autofenster sah ich, dass es sich um Eliah handelte. Er stieg aus, ging auf das Haus zu und klingelte. 

Ein blonder Mann mit Hemd in der Hose blickte paranoid um sich, bevor er Eliah herein ließ. Ob es sich um Drogengeschäfte handelte? Merkwürdig, dass ausgerechnet unser pingeliger Nachbar in solche Kriminalitäten verwickelt war. Direkt gegenüber von ihm wohnte doch ein DEA-Agent. Wenn Drew das wüsste...

Nach wenigen Minuten kam Eliah wieder aus dem Haus heraus. Und als er die Treppen hinunter ging, bemerkte er mich. Er zog seine Stirn kraus und belächelte mich. "Auf wen wartest du?", fragte er.

Ich schüttelte nur den Kopf und sah beschämt zu Boden. Da sah ich seinen Schatten auf mich zu kommen.

"Ausgesperrt?", fragte er mich belustigt.

Ich nickte und sah zu ihm hoch. Er war größer und breiter als Jared. Seine Haut spannte sich um Muskeln und auf seinen Armen, um seinem Hals und in seinem Gesicht zierten sich Tattoos. Die feminin wirkenden Veilchen um seinem Hals ließen ihn nicht weniger hart erscheinen. Sie hatten etwas.

Er ging an mir vorbei die Treppen hinauf und blieb vor meiner Haustür stehen. Aus seiner Hosentasche holte er sein Portemonnaie und zog eine Karte heraus. "Ich wollte schon immer mal bei dem Hurensohn einbrechen", murrte er mit einem unbezahlbaren Grinsen im Gesicht.

Mit großen Augen beobachtete ich ihn. Er steckte die Karte in den Türspalt, am Schließblech entlang. Dann rüttelte er an der Tür, bis sie plötzlich wie von selbst aufsprang. Eliah spazierte einfach in das Haus hinein und ich folgte ihm sprachlos.

Meine Sprachlosigkeit war nur von kurzer Dauer. "Wo hast du sowas gelernt?", fragte ich verblüfft.

Er zuckte mit den Achseln und marschierte in die Küche. Als ich ihm folgte, sah ich, wie er sich am Kühlschrank bediente und sich ein Bier herausholte.

Gott, wenn Drew wüsste dass der, den er sucht, gerade in seinem Haus spazieren geht und sein Bier trinkt - er würde ihn umbringen. Und mich auch.

"Danke", sagte ich mit extrem erzwungenem Lächeln. "Aber könntest du jetzt bitte gehen? Was ist, wenn Drew nach Hause kommt?"

Genüsslich nahm er kräftige Schlücke von Drews Bier. Dann rülpste er laut und stellte die nun leere Flasche auf die Kücheninsel. "Zeig mir dein Zimmer", sagte er.




Catch me if I fallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt