November

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Ich sah in den Spiegel und ekelte mich. Meine Augenhöhlen schimmerten gräulich und meine Wangen waren tief eingefallen. Von dem bisschen Kurven, die ich vorher hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Ich war ein Skelett, überzogen mit dünner Haut. Auch meine Lippen waren trocken und mein Haar hang spröde und leblos an mir herunter.

Ich war ein Haufen Elend. Zerstört von der Vergewaltigung. Von den Drogen. Von der Liebe.

Mit meinen dünnen, knochigen Fingern, drückte ich den Kolben der Spritze herunter und ließ die bräunliche Flüssigkeit in meine Blutbahn gelangen.

Es hatte mit ein mal vor dem schlafen gehen angefangen, jetzt waren es fünf Dosierungen am Tag. Doch eigentlich hatte die Sucht schon die Kontrolle über mich gewonnen, als ich mich dazu entschied, es an jenen Abend zum aller ersten Mal auszuprobieren. Schon nach dem ersten Mal hatte ich darüber nachgedacht, es ein zweites Mal zu machen.

Und von dem Himmel, den diese Droge mir einst bereitete, war nichts mehr übrig geblieben. Ich nahm das Heroin nicht mehr zum Fliegen. Ich nahm es, um nicht zu zittern, nicht zu schwitzen, nicht zu erbrechen und nicht komplett den Verstand zu verlieren.

Denn ich hatte schon versucht, mich aus den Fesseln zu befreien. Es war unmöglich. So unmöglich, wie unter Wasser nach Luft zu schnappen.

Was hatte ich falsch gemacht? Was hätte ich anders machen können? Mir darüber den Kopf zu zerbrechen, zog mich nur noch tiefer in diese Endlosspirale.

Noch war es nicht zu spät. Noch konnte ich was ändern. Aber wie? Wie, wenn ich so viel Zugriff auf Heroin hatte, wie ich wollte, solange ich nur das tat, was Eliah von mir verlangte. Ich war nicht nur eine Sklavin der Sucht, sondern auch seine.

Selber Schuld, Carmen. Du hast dich dafür entschieden.

Aber wieso war ich Jared so scheiß egal? Wieso kämpfte er nicht um mich? Weil er sich bemüht hatte und ich mich trotzdem für dieses Leben hier entschied. Es war doch mehr als logisch, dass er nichts mehr mit mir zutun haben wollte.

Meine Sehnsucht nach ihm wurde immer größer. Ich schloss die Augen und ließ meine Finger federleicht über mein Schlüsselbein streichen. Ich stellte mir vor, er würde mich anfassen.

Ich dachte an die Art, wie er mir weh tat.

"Lass sie doch gehen, sie gehört nicht hierher. Wer ist überhaupt auf diese dumme Idee gekommen, sie mitzunehmen? Mit ihrem gelben Sommerkleid sieht sie aus wie eine 12 Jährige."

"Karen!", rief er mich. Er, der Typ mit den stechend grünen Augen. "Wo willst du hin? Hast du nicht vergessen, was aufzuheben?" Er lachte und seine Begleiter lachten mit.

Jared lachte laut auf. "Was?", sagte er und wischte sich die nicht vorhandenen Tränen weg. "Sie werden gar nichts denken, wen auch immer du meinst. Sieh dich an und sieh mich an." Er zeigte abwechselnd von mir auf sich und schüttelte den Kopf.

"Keine Sorge, Carmen", sagte er in einem so sanften Ton, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief. "Mir ist scheiß egal, was mit dir passiert. Selbst wenn du heute auf dem Weg nach Hause vergewaltigt und ermodert wirst, wäre es mir scheiß egal."

"Ich meine, wer würde sich das antun, dich zu ficken?" Abfällig glitt sein Blick zu Barrie. Sein Blick sagte so viel wie: ach ja, der da.

"Es tut mir leid", brach er das Schweigen. "Ich wollte dir nie Hoffnungen machen."

Und ich dachte an die Sachen, die er sagte, die mich zum schmelzen brachten.

"Du weißt schon, dass ich dich nur nach Hause begleite, damit dir Typen wie Eliah nicht auf der Straße begegnen." Jared zog lang und genüsslich an seiner Zigarette und stieß anschließend den Rauch aus der Nase aus.

"Wenn es drauf ankommt, würde ich nicht zulassen, dass dir was passiert."

"Ich denke daran...", flüsterte er und streifte mit seinen Fingerkuppen federleicht über mein Haar, welches auf dem Boden ausgefächert lag, "wie sich deine Lippen wohl auf meinen anfühlen würden."

Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen, verschwand aber so schnell, wie es gekommen war. "Du bist...", fing er an und stockte. Seine Finger streiften leicht über das Foto. "süß."

"Du warst in meinem Kopf, hast alles, was ich kannte, in Frage gestellt. Als hättest du mich mit deiner Art kontaminiert, habe ich wieder angefangen zu leben."

"Ich bin nicht gut für dich, raffst du es nicht? Du warst wie Sonnenlicht für mich. Und ich habe dir nur Regen gebracht. Ich bin kaputt, Carmen."

An die Art, wie er mich küsste...

Zaghaft strichen seine Lippen über meine. So zaghaft und federleicht, als wäre dieser Moment nicht existent. Ein Wunschdenken. Ein Tagtraum.
Doch seinen süßen Atem an meinem zu spüren machte mich verrückt. Ich vergrub meine Hände in sein Haar und drückte meine Lippen zwar schüchtern, aber etwas fester gegen seine.

Ich wollte ihn sehen. Wollte ihn fühlen. Wollte ihn um mich haben. Wollte, dass er wieder ein Teil meines Lebens war. Von mir aus konnte er gemein sein, mich beleidigen, mich ignorieren oder böse anstarren. Solange er nur bei mir wäre, wäre ich mit allem zufrieden.

Doch nur Eliah war bei mir. Ich sah sein schönes, trauriges Gesicht jeden verdammten Tag.

Und wenn Eliah mich von hinten nahm, dachte ich an das, was Stace über Jared gesagt hatte. "Er zieht an meinen Haaren und fickt mich hart von hinten."

Er fasste mich an, als gäbe es bei mir viel anzufassen und hinterließ nicht selten blaue Flecke in Form seiner Fingerabdrücke auf meinem Körper. An meiner Taille, meiner Hüfte, meinem Hals, meiner Schulter, meinem Oberarm.

Die ersten paar Male hatte ich geheult und mir die Lippen blutig gebissen, damit ich kein Geräusch von mir gab. Als ich mir dann vorstellte, er sei Jared und ich sei Stace, war es erträglich.

Es war ekelhaft - aber die einzige Art, wie ich das überhaupt aushalten konnte. Die einzige Art, wie ich den Schmerz tolerieren konnte.

Doch auch Eliah schien an jemand anderen zu denken, wenn er in mich stieß. Immer, wenn ich nach Hinten sah, hatte er die Augen geschlossen und einen leidenden Ausdruck im Gesicht.

Meine Faust landete in dem Spiegel vor mir. Die Scherben bohrten sich scharf in meine Finger, doch der Schmerz war befriedigend. Meine andere Hand ballte sich ebenso zur Faust und schlug in die restlichen Splitter, die noch vom Spiegel übrig geblieben waren. Dann trommelte ich mit beiden Händen gegen die Scherben, holte mir den ganzen Schmerz ab, der mich noch spüren ließ, dass ich nicht vollkommen tot war.

Ich kreischte mit zusammengebissenen Zähnen und schlug immer heftiger zu, bis ich nur noch auf die Wand traf. Heulend sank ich auf die Knie, wodurch sich meine Knie und Schienbeine an den Scherben aufschürften und unter mir eine kleine Sintflut aus Blut strömte.

Ich hasste mich. Ich ekelte mich vor mir. Ich wollte Schriftstellerin werden, studieren. Eine Familie gründen. Nicht so enden, wie ich gerade endete.

Meine Blutverschmierten Finger rauften sich meine trockenen Haare.

Es war Eliah, der mich an sich drückte. Der meine Wunden wusch und bandagierte. Der mich auszog und in die Duschwanne setzte. Der mein blutverklebtes Haar einshampoonierte und dabei meinen Kopf massierte. Der mich wusch und daraufhin beim anziehen half, als wäre ich ein Kleinkind, das seine Hilfe benötigte.

"Wenn du wütend bist, dann sei es auf Drew", sagte er im ruhigen Ton, als er mir meine Sportjacke reichte.


Catch me if I fallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt