77 | secret place

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CHLOE

Der Tag neigte sich dem Ende zu und seit zwanzig Minuten schlenderte ich Kiara hinterher, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, wohin sie mich bringen wollte. Dabei beobachtete ich, wie sie die ganze Zeit heiter am grinsen war. Sie hatte schon immer ein fröhliches Lächeln, aber dieses war anders. Spezieller. Erleichterter. Freier.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken und trank einen weiteren Schluck aus ihrem Flachmann. "Der Scotch ist gut. Allerdings fehlen da noch zwei Zutaten."

Sie blieb stehen und drehte sich mit überraschtem Gesicht um. "Du meinst ..."

"Blaubeersaft und–"

"Milch." Ihre Gesichtszüge wurden ganz weich und ihr Lächeln breit. Mir erwärmte es das Herz, dass sie sich an das Blue-Ginger Getränk erinnerte.

Wir wanderten weiter, während wir uns mit dem Flachmann abwechselten.

"Gott, wie lange noch? Meine Beine können nicht mehr", jammerte ich nach Minuten voller Stille.

"Ruhig, Tiger. Wir sind gleich da." Offenbar war der Flachmann nun leer, denn sie schüttelte ihn kurz, um zu testen, ob dort noch etwas drin war und steckte ihn dann in ihre Hosentasche.

Ich brummte genervt.

"Weißt du noch Muttertag 2008?", fragte Kiara, während wir mittlerweile schon außerhalb der Stadt in einem Wald wanderten.

"Keine Ahnung, das war vor zehn Jahren, ist schon etwas her. Hilf meinem Gedächtnis lieber mal auf die Sprünge."

"Na schön. Also, wir bekamen in der Schule die Aufgabe Muttertagskarten für unsere Mütter zu basteln. Du hast einen kleinen Dinosaurier mit einer Blume in der Hand gemalt. Das weiß ich noch ganz genau. Ich hingegen war war todtraurig weil meine Eltern sich immer mehr stritten und hatte keine Motivation, um meiner Mutter ein Geschenk zu basteln, also hast du mir vorgeschlagen, dass ich für deine Mom eine machen sollte. Als wir dann nach der Schule bei dir zu Hause waren, überreichten wir ihr die beiden Karten und selbstgepflückte Blumen. Als dank hat sie uns beide so fest in den Arm genommen, dass ich einen blauen Fleck bekam."

Ich erinnerte mich wieder. Natürlich. Mom verstand erst gar nicht, warum Kiara ihr etwas schenkte, doch mit Blick auf ihre Mutter, die sich immer nur woanders aufhielt, trank, oder sich mit ihrem Ehemann stritt, begriff sie, das sie sowas wie eine Mutter auch für meine beste Freundin war.

"Dann stürmte dein Dad rein und beschenkte deine Mom mit einem riesigen Blumenstrauß. Sie war so verwirrt und hat ihn gefragt, warum er ihr was zum Muttertag schenkte. Er erklärte nur, dass sie ihm alles gute in seinem Leben geschenkt hat. Die Ehe zu ihr, seine Kinder und ... seine Freiheit." Mit ihrem Arm schob sie Äste eines Baumes zur Seite, damit sie ungestört weiter gehen konnte.

Es versetzte mir einen Stich an diese glückliche Erinnerung zu denken, denn obwohl es unbeschwerte Momente gab, bröckelte es in Wahrheit ständig zusammen. Natürlich wollte es sich niemand aus meiner Familie ansehen lassen. Wir waren alle in unserem Herzen bloß elende Heuchler.

"Und da erzählte er es uns zum aller ersten Mal. Von ihrem ersten Treffen. In mitten eines Sonnenblumenfelds."

"Ja ... Ja, ich erinnere mich, aber warum erzählst du mir das jetzt?", fragte ich, während ich über einen schmalen umgefallenen Baumstamm kletterte.

"Denk an seine Worte, Chloe. Er fühlte sich zum ersten Mal frei. Es war ihr geheimer Ort. Niemand sonst sollte je davon erfahren." Sie blieb stehen und schob erneut dichte Äste zur Seite.

"Schon klar, aber–" Dann sah ich das, was sie zum Vorschein gebracht hatte.

Ein Feld. Voller Sonnenblumen.

Missing part of MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt