55. Tyler

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Es ist mir schon lange nicht mehr so schwer gefallen aufzustehen wie heute. Mal wieder habe ich eine zum Großteil schlaflose Nacht hinter mir, in der ich nur gegrübelt habe. Worüber weiß ich jetzt gar nicht mehr so genau. Es war eine Mischung aus alles und nichts, denke ich.

Dass Alex da war, hat mich beruhigt. Dass er mich festgehalten hat, hat dafür gesorgt, dass ich mich weniger verloren gefühlt habe. Ich weiß nicht, was ich diese Nacht ohne ihn getan hätte. Tagsüber ist es so einfach zu verdrängen was mich beschäftigt. Ich lenke mich ab, kümmere mich um Dinge, die ich tun und vor allem ändern kann und versuche, das Beste draus zu machen. Doch, wenn ich nachts in meinem Bett liege, kann ich nicht mehr davonlaufen. Es holt mich ein und ich habe das Gefühl mit jeder Nacht wird es immer schlimmer.

Es ist schwer, die Asche und die kleine, noch heile Ecke des Briefes zu übersehen, als ich in der Küche stehe. Beides liegt in einem Teller neben der Kaffeemaschine. Ich weiß nicht, was John damit bezwecken wollte, es so dort hinzustellen. Ich glaube nicht, dass er mir absichtlich ein schlechtes Gewissen machen wollte, doch trotzdem schreit es mir nur so entgegen: Schau, was du angerichtet hast! Du machst immer alles nur kaputt!

Ich wollte den Brief nicht verbrennen. Zumindest glaube ich das. Ich wollte einfach irgendwas zerstören und somit greifbar machen, wie es grade in mir aussieht.

Ich bereue es. Ich bereue so vieles und weiß gar nicht, was davon am meisten.

Ehe ich wirklich darüber nachdenken kann, kippe ich den Inhalt des Tellers in den Müll. Was bringt es mir der Haufen Staub und der kleine Fetzen von dem, was ich zerstört habe, noch?

Heute in der Schule bin ich absolut nicht bei der Sache. Ich gebe mir wirklich Mühe, aber sobald ich mal eine kurze Sprechpause einlege, nutzt mein Hirn die Gelegenheit, Gedanken hindurchzujagen, die ich zu verdrängen versuche. Ich komme regelmäßig total aus dem Konzept und versuche dann nur noch, es irgendwie zu überspielen.

Ich bin so froh, als dieser Tag zu Ende ist. Seit ich als Lehrer arbeite, war ich noch nie so erleichtert, endlich nachhause zu können. Dabei weiß ich doch ganz genau, dass es nicht die Schule ist, die mich fertigmacht oder die Leute dort, sondern nur ich selbst. Und davor davon zu laufen oder mich zu verstecken ist schlichtweg unmöglich.

Als ich zum Parkplatz laufe, kreuzen Lila, Pia und Finn meinen Weg.

„Bist du noch ein bisschen verkatert?", grinst Lila.

Es wurde also mehr als offensichtlich, dass ich heute nicht bei der Sache war.

„Nein" Ich gehe an ihnen vorbei, ohne noch etwas Anderes zu sagen.

Ich will ein gutes Verhältnis zu meinen Schülern, ja, aber wie gesagt kann und will ich nicht mit ihnen befreundet sein, solange ich sie noch unterrichten muss. Genau wegen sowas.

„Jetzt lauf doch nicht weg!" Sie eilen mir hinterher. „Was ist denn los?"

Sie wirken wirklich so als würden sie sich sorgen um mich machen.

„Gar nichts, ich habe einfach nur einen schlechten Tag heute.", behaupte ich.

Ein Teil von mir will sie anmaulen. Ihnen eine Ansage machen, dass es sie einen Scheiß zu interessieren hat und sie sich um ihr eigenes, verkorkstes Leben kümmern sollen. Doch ich bin ja nicht wirklich sauer auf sie und ich weiß, dass sie es nur gut meinen, also will ich es nicht an ihnen auslassen.

„Du kannst mit uns reden, das weißt du, oder?", hakt Finn nach.

Seufzend nicke ich, obwohl wir alle wissen, dass ich das nicht tun würde. Ich kann mich doch nicht bei meinen Schülern ausheulen. Vor allem nicht, wenn ich mich nicht mal meinem festen Freund anvertrauen kann... und ich wüsste nicht mal, was ich denn sagen soll.

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