92. Tyler

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Das Fernsehprogramm ist mit den letzten Jahren Schrott geworden. Wirklich, überall nur Müll, Müll und noch mehr Müll. Kein Wunder, dass John sich meistens nur Tierdokus anschaut, das ist das einzige Interessante, was die Kanäle heute noch zu bieten haben. Daran merkt man doch, dass die Welt zu Grunde geht.

In den letzten Tagen bin ich zum Vampir geworden. Ich liege nachts wach, getrieben von meinen Gedanken und Sorgen, tue irgendwas, um mich abzulenken, sowie Lesen oder Fernsehen oder Kreuzworträtsel oder irgendwelche Ratespiele spielen.

Meistens schlafe ich dann tagsüber ein paar Stunden. Aus was für einem Grund auch immer fällt es mir deutlich leichter, meine Ruhe zu finden, wenn ich weiß, dass alle anderen da draußen ihr Leben leben, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, dass ich existiere...

Ich glaube, es macht mir Angst, dass nachts alles stillsteht. Es kommt mir vor wie eine Falle und sobald ich es zulasse, die Ruhe zu genießen, schnappt sie zu. Dann zieht mich die Dunkelheit in sich auf und lässt mich nie mehr gehen. Daher bleibe ich nachtsüber wach und aufmerksam und am Tag, wenn mein Körper dann genauso fertig ist wie mein Geist, falle ich in einen beinahe komatösen Schlaf, gegen ich mich nicht mal wehren könnte, wenn ich es wollte.

Es gibt vieles, das ich machen könnte. Sport, rausgehen, etwas unternehmen, mit Freunden in Kontakttreten oder mit Samira, aber nichts davon tue ich. Allein daran zu denken, setzt mich schon total unter Druck, weil ich genau weiß, dass ich mich dafür aufraffen muss und zumindest den Eindruck vermitteln, dass ich alles im Griff habe. Und eigentlich habe ich das ja auch. Ich meine, ich habe Ferien. Keiner kann mir vorwerfen, dass ich diese mit Faulenzen verbringe. Zwar widerspricht das total meiner arbeitswütigen Art, aber bei mir ist einfach die Energie draußen und wirklich was zu tun habe ich ja nicht mal, weil ich schon alles erledigt habe.

John und ich sehen uns nicht oft, weil ich die meiste Zeit in meinem Zimmer bin. Nur, wenn er was zu essen bestellt und mich fragt, ob ich auch etwas will. Dann laufen unsere Konversationen immer gleich ab:

Er: „Hei, ich bestelle was. Willst du auch? Pizza? Oder Nudeln? Oder irgendwas anders?"

Ich: „Hab keinen Hunger, aber danke, dass du fragst"

Er: „Hast du heute überhaupt schon was gegessen?"

Ich: „Das geht dich nichts an"

Er: „Tyler, ich mache mir Sorgen"

Ich: „Kümmere dich um deine eigenen Probleme"

Er: „Ich will für dich da sein"

Ich: „Du hilfst mir am besten, indem du mich in Ruhe lässt"

Er: „Tyler, bitte"

Ich: „LASS MICH IN RUHE!"

Dann schmollt er und geht. Es ist jeden Tag dasselbe. Nur heute ist es anders.

Ich bin grade dabei, aus meinem Nachtmittagsschlaf zu erwachen und strecke mich in alle Richtungen, öffne meine Augen und fange dann erschrocken an zu schreien, weil John knapp neben mir sitzt und mich anstarrt.

„Ach du scheiße! John! Du hast mich fast zu Tode erschreckt!"

„Kurz dachte ich, du bist schon tot", gibt er zurück. „Wie kann ein Mensch so tief schlafen?"

Ich schnaube bloß.

Ich bin froh, dass ich überhaupt schlafen kann, dann will ich mal keine allzu hohen Ansprüche stellen. Außerdem gibt es doch keinen friedlicheren Tod als diesen. Das dachte sich Logan wohl auch, bevor er die Schlaftabletten mit dem Alkohol runtergespült hat.

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