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Verdattert sah ich ihn an.
Ich blinzelte perplex.
Sichtlich überfordert mit der Situation stand ich einfach da.
Er sah mich jedoch schmerzvoll an.
,,Wie bitte?", hauchte ich.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
,,Meine Schwester", hauchte er wieder leise und eine weitere Träne löste sich aus seinem Auge.

Bei seinem Anblick füllten sich meine Augen ebenfalls.
Ich sah wieder auf das Blatt.
Dann sah ich wieder zu ihm hoch.
Ich hatte einen Bruder?
Stimmte das gerade?
Völlig benommen sah ich in seine Augen.

,,Du bist mein Bruder?", fragte ich leise.
Ich kam gerade nicht klar.
Der Kloß wurde immer größer.
Plötzlich ließ er sich auf die Bank nieder und legte seine Hände auf sein Gesicht.
Stumm saß er da.
Stumm sah ich ihn an.
War er wirklich mein Bruder.
,,Sydney", hörte ich ihn wieder hauchen und dann schluchzte er.

Dann sah er zu mir.
Mit dem selben Blick.
Mit dem selben schmervollen Blick sah er mich an.
Ich regte mich nicht.

Plötzlich stand er auf und griff nach mir.
Aprubt drückte er mich an seine Brust und legte seine Arme um mich.
Ich hörte ihn weinen.
Ich hörte ihn hilflos schluchzen.
Völlig benommen stand ich da.
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Er drückte mich fester an sich.
Ich regte mich nicht.

War diese Tatsache wahr?
War es wirklich wahr?
Aber es musste wahr sein.
Sonst hätte er das Blatt ja nicht so angesehen.
Sonst hätte er nichts von dem Zettel verstanden.
Sonst hätte er mich nicht so schmerzvoll angesehen.

Ich schloss gequält die Augen und plötzlich verlor ich auch eine Träne.
Ethan strich mir über die Haare.
Ich hörte ihn schniefen, was mir noch eine Träne kostete.
Ich hatte einen Bruder.
Einen leiblichen Bruder.
Von dem ich 18 Jahre lang nicht Bescheid gewusst hatte.
Aber anscheinend wusste er dass er eine Schwester hat.

Ich löste mich aus seiner Umarmung und sah hoch in sein tränenüberfülltes Gesicht.
Ich versuchte den Kloß aus meinem Hals zu lösen.
,,Bist du wirklich mein Bruder?", hauchte ich und schluchzte im nächsten Moment.

Schnell legte ich meine Hand vor mein Mund.
Ethan nickte langsam.
Vorsichtig hob er dann die Hand und legte es auf meine Wange.
Ganz sanft.
,,Du bist wirklich meine Schwester.", hauchte er.
Er schluckte.
,,18 Jahre", wisperte er und erneut löste sich eine Träne.

Ich sah wieder auf das Blatt in meiner Hand.
Ich hatte einen leiblichen Bruder.
Der gerade vor mir stand.
Den ich nach 18 Jahren kennenlernte.

Ich sah wieder zu Ethan.
,,Und... wo sind meine.. unsere Eltern?", hauchte ich.
Er nahm seine Hand von meiner Wange.
,,Bist du bei ihnen aufgewachsen?", fragte ich schmerzvoll.
,,Warum wurde ich weggeben?", flüsterte ich und schluchzte erneut.

Ethan schüttelte den Kopf.
,,Ich bin nicht dort aufgewachsen", flüsterte er.
Ich atmete tief ein.
,,Wo dann?", wisperte ich.
Er sah weg.
,,In der Mafia", hörte ich ihn sagen.
Ich schluckte.
Mein Bruder wurde in der Mafia aufgezogen.
Bitte was?!

,,Wusstest du von mir?", wollte ich wissen.
Er nickte gequält.
,,Ich war vier als du geboren bist. Und als wir weggeben worden sind war ich fünf."
,,Wohin? Wohin wurden wir weggeben?", wisperte ich.
,,Ins Waisenhaus."
Ich stockte.
Ins Waisenhaus?
,,Und wer hat das gemacht?"

Ethan fuhr sich über das Gesicht und setzte sich langsam hin.
Dann deutete er mir, dass ich mich ebenfalls hinsetzen sollte.
Zögernd nahm ich neben ihm Platz.
,,Es war unsere Mutter", hörte ich ihn sagen.
,,Als unser Vater gestorben ist hat sie uns weggeben. Wahrscheinlich weil sie nicht mit uns alleine klar gekommen ist. Unsere Lebenssituation wäre sowieso nicht die beste gewesen.", fing er an.

Und das alles wusste er?
Das musste doch viel schmerzhafter sein als, wie ich, nichts zu wissen.
,,Wir waren im Waisenhaus. Und dann wurdest du zuerst weggegeben", sagte er und verzog sein Gesicht zu einer schmerzhaften Miene.

Er sagte nichts mehr.
Ich sagte nichts.
Doch dann wurde ich auf etwas aufmerksam.
Ich war seit mehr als zwei Monaten hier.
Und Matteo hatte von Anfang an gewusst dass ich adoptiert wurde.
Er hatte also auch von Anfang an gewusst, dass Ethan mein Bruder war.
Und er hatte weder mir noch ihm was davon gesagt.

,,Du wurdest von der Mafia entführt. Du musstest vieles durchmachen.
Und mich hat das nicht gekümmert.
Weil ich nicht wusste dass du meine Schwester bist", wisperte er.
,,Niemand hat mir das gesagt. Niemand", sagte er qualvoll und kniff die Augen zu, auf die er seine Hand drauf legte.

Ich schüttelte den Kopf.
Wie konnte man sowas verheimlichen?
Warum?

Ethan drehte sich zu mir.
,,Ich hätte dir was anstellen können, ohne zu wissen dass du meine Schwester bist", sagte er hektisch.
Schnell sah ich weg.
Dann stand ich auf.
Ich riss das Blatt in meiner Hand in mehrere Stücke.
Mehrmals.
Meine Augen wurden glasig.
Wütend zerstückelt ich das Blatt.
,,Ich war noch klein!", rief ich.
,,Wie konntest du mir das antun!", schrie ich.
Meine Wut galt meine Mutter.
,,Warum wird vor mir alles verheimlicht! Warum kenne ich mein Bruder erst 18 Jahre später!", schrie ich weinend.
,,Warum!"
Schluchzend sank ich auf meine Knie.
Ich merkte wie sich Ethan zu mir setzte.

,,Sydney, beruhig dich", flüsterte er mir zu.
Qualvoll sah ich ihn an.
,,Hast du denn keine Schmerzen? Tut dir diese Tatsache denn nicht weh", sagte ich leise.
,,Und wie es weh tut", murmelte er.

,,Sydney?", hörte ich aprubt Matteos Stimme.
Sofort sah Ethan auf. Doch ich regte mich nicht.
Ich merkte wie sich Matteo neben mich kniete.
,,Sydney,-"
Ich stand auf.
Matteo stellte sich vor mich.

Kopfschüttelnd sah ich ihn an.
,,Du wusstest es. Und zwar schon lange. Du wusstest das schon lange!", wurde ich gegen Ende lauter.
,,Warum sagst du mir das erst jetzt?!"
Er sah mich bittend an.
,,Warum sagst du mir nicht dass ich einen Bruder hab, der so nah zum greifen war.", wisperte ich enttäuscht und wischte über meine Wange.

Matteo legte seine Hand auf meine Schulter.
,,Ich hab auf den richtigen Moment gewartet.", sagte er leise.
Ich schüttelte den Kopf.
,,Wäre ich jetzt nicht deine Freundin hättest du mir das gar nicht gesagt und Ethan hättest du auch alles verschwiegen", sagte ich.

Matteo nahm seine Hand von mir und fuhr sich über das Gesicht.
Ich drehte mich zu Ethan um, der Matteo stumm betrachtete.
Schwach lächelte ich ihn an.
Ich spürte Matteos Hände an meiner Schulter. Langsam drehte er mich zu ihm.

Er sah mich schuldbewusst an.
,,Verzeihst du mir?", hauchte er leise.
Er griff langsam nach meinen Händen und blickte mich intensiv an.
Ich seufzte schwer und schniefte kurz.
,,Dir soll Ethan verzeihen. Nicht ich", flüsterte ich schließlich und löste meine Hände von seinen.

Dann sah ich mein Bruder an.
Dieser fuhr sich kurz über die Haare und blickte dann zu Matteo.
,,Hätte ich ihr was angetan hätte ich dir das nie im Leben verziehen", sagte er zu Matteo.
,,Egal ob ich dich Sir nenne oder nicht", setzte er hinzu.
Dieser nickte leicht und sah uns beide reuevoll an.
Er schien als wollte er was sagen, doch er blieb still.

,,Wo bleibst du überhaupt?", fragte nich Ethan. Ich deutete mit meinem Kopf zu Matteo.
Aprubt zog er mich an sich und näherte sich meinen Ohr.
,,Zwingt er dich dazu, oder so?", fragte er mich leise.
Ich schüttelte den Kopf und entfernte mich von ihm.
,,Er ist mein Freund.", informierte ich mein Brude über die Tatsache.
Er hatte wohl kein bisschen damit gerechnet, denn er verschluckte sich jetzt an seinem eigenen Speichel.

,,Deine Schwester ist sicher bei mir. Ich tu auch nichts was sie nicht will. Keine Sorge.", versicherte Matteo meinem Bruder.
Seufzend nickte dieser und zog mich erneut an seine Brust.
Von mir aus konnte er mich noch ewig umarmen.

Nach 18 Jahren.

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