36. Nur kurz

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Avery P.O.V.

19:35 Uhr

Wir schlendern nun schon seit eineinhalb Stunden durch die Straßen Bogotás, obwohl der Weg eigentlich in nur vierzig Minuten zu Fuß zu schaffen wäre. Aber ich kann einfach nicht anders, als bei jedem Straßenstand stehen zu bleiben und mich in der Kultur zu verlieren. Die Gerüche, die Farben, die Geräusche – alles ist so lebendig, so intensiv.

Adrian folgt mir still, sagt nicht viel, aber er beklagt sich auch nicht. Seine Augen beobachten aufmerksam alles um uns herum, als würde er jede Bewegung, jedes Detail registrieren.

An einem kleinen Stand, versteckt in einer schmalen Gasse, hält mich der Duft von Gewürzen und Alkohol auf. Die Verkäuferin, eine ältere kolumbianische Frau mit einem warmen Lächeln erkennt sofort meine Neugierde.

„Quieres probar el aguardiente?", fragt sie und hält mir ein Shot-Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin. Ich muss kein spanisch verstehen um zu wissen was sie fragt.

Ich werfe Adrian einen flehenden Blick zu. Er atmet genervt ein, aber zückt im nächsten Moment sein Portmonee. Er reicht der Dame einen 50er Schein woraufhin sie ihn perplex ansieht.

„Gracias, señor. Que Dios esté contigo.", sagt sie und bückt ehrfürchtig ihren Kopf.

„Gracias.", sage ich zu der Dame und nehme das Glas.

„Que es esto?", fragt Adrian die Dame, welche ihm ebenfalls ein Glas reicht. Er hält es unter seine Nase und riecht einmal daran.

„Aguardiente Antioqueño. Este aguardiente tiene un sabor dulce y anisado..", sagt die Dame mit einem stolzen Lächeln.

„Was sagt sie?", flüstere ich Adrian zu, während ich an meinem Glas rieche.

„Es ist ein traditionell kolumbianischer Schnaps. Er schmeckt nach Anis und gleichzeitig leicht süßlich.", erklärt er mir.

Ich zögere erst, doch dann nehme ich das Glas und lasse die scharfe, aber irgendwie süße Flüssigkeit meine Kehle hinunterbrennen.
Adrian macht es mir gleich.

Kaum ist die Flüssigkeit unten, muss ich einmal husten.

„Das brennt..", sage ich und hole tief Luft. In meinem Magen breitet sich sofort die Wärme aus.

Adrian mustert mich amüsiert und schüttelt leicht den Kopf. Die Frau schenkt uns noch eine zweite Kostprobe ein.

„Gracias.", sage ich und kippe die Flüssigkeit ein weiters Mal runter. Dieses Mal schmeckt es wesentlich besser.

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Wir ziehen weiter, langsam, und mit jedem Schritt geht die Sonne ein Stück tiefer. Ich merke, dass Adrian lockerer wird, seine Schultern sind nicht mehr so angespannt, und er hat diesen ernsten Blick abgelegt, den ich so oft sehe. Wir trinken mehr Schnaps bei verschiedenen Straßenständen, und die Welt um mich herum wird ein bisschen verschwommener, ein bisschen leichter.

Als wir an einer Bar vorbeikommen, aus der lateinamerikanische Musik ertönt, halte ich abrupt an und sehe Adrian mit funkelnden Augen an. „Lass uns da reingehen", sage ich, vielleicht etwas zu fordernd, meine Stimme schwingt vor Aufregung und meinem berauschten Zustand.

Die Fassade der Bar ist in leuchtendem Gelb und Blau gestrichen, bunte Lichterketten hängen über der Tür, aus der Musik und Gelächter nach draußen dringen. Vor der Bar stehen ein paar Plastiktische, umringt von Menschen, die trinken und lachen.

Doch seine Antwort ist eiskalt.

„Nein. Ganz bestimmt nicht."

Ich stelle mich vor ihn, sehe ihn an und setzte einen flehenden Blick auf, ohne etwas zu sagen. Für einen Moment sehe ich, wie er mit sich ringt, sein Blick wandert langsam über mein Gesicht, während ich meinen flehenden Blick angestrengt aufrecht erhalte. Schließlich seufzt er leise, die Kälte in seiner Stimme schmilzt ein wenig.

AveryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt