74. Kein Zurück

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Avery P.O.V.

Ein kalter Schauer jagt mir über den Rücken, als ich aus dem Schlaf gerissen werde. Mein Atem geht schnell, mein Kopf ist leer. Matteo steht in der Tür. Sein Grinsen – dieses widerliche, hässliche Grinsen – lässt meinen Magen zusammenziehen. Instinktiv schaue ich mich um, suche nach Zeus. Er war doch eben noch da, warm an meiner Seite. Aber jetzt... jetzt ist er weg.

„Marta ist mit ihm spazieren," sagt Matteo beiläufig, als könnte er meine Gedanken lesen. Seine Worte lassen mein Blut in den Adern gefrieren. Die Tür fällt mit einem dumpfen Knall hinter ihm ins Schloss und die Panik, die mich eben nur leicht berührt hat, überrollt mich plötzlich mit voller Wucht.

Ich will etwas sagen. Irgendetwas. Aber meine Lippen sind wie fest verschlossen, als wäre jede Fähigkeit zu sprechen, zu denken, zu handeln, von mir genommen.

Matteo sieht mich an, als wäre ich ein Spielzeug, das er langsam auseinandernehmen will. „Heute ist es soweit," sagt er, sein Ton fast heiter. „Heute wirst du den Schlüssel besorgen."

Ich blinzle, aber die Worte sickern nicht richtig zu mir durch. Alles fühlt sich dumpf an. Ich kann nichts tun. Nichts sagen. Meine Hände zittern leicht unter der Decke, aber ich rühre mich nicht. Die Angst sitzt wie ein Kloß in meiner Brust, drückt, schnürt mir den Atem ab, doch gleichzeitig fühle ich... nichts. Nur Leere.

Matteo kommt näher, sein Blick durchdringt mich. „Du wirst zu Adrians Wohnbereich gehen," sagt er, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. „Heute Abend. Gegen 20 Uhr."

Adrian. 20 Uhr. Wohnbereich. Der Schlüssel. Die Worte verschwimmen, ich bin mir nicht sicher ob ich ihm folgen kann.

„Dann, etwa zehn bis fünfzehn Minuten später werde ich anklopfen.." fährt Matteo fort „..und Adrian fragen, wo er bleibt und ihm sagen die Party hat begonnen. Er wird nicht so dumm und unvorsichtig sein wie du, Avery. Er wird dich verbergen wollen und versuchen, dass er schnellstmöglich aus dem Zimmer kommt bevor ich realisiere, dass du drinnen bist. Und während er weg ist..." Matteo tritt noch einen Schritt näher „...findest du den Schlüssel."

Mein Magen dreht sich um, aber mein Körper bleibt regungslos. Es gibt nichts zu sagen. Keine Fragen. Kein Ausweg.

„Ach ja und offiziell bist du krank. Also bau hier und da ein Husten ein. Sonst wird er sich fragen weshalb du so beschissen aussiehst." Er wendet seinen Blick ab und ohne noch ein Wort zu verlieren verlässt er mein Zimmer.

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19:51 Uhr

Meine Füße tragen mich ziellos durch das Zimmer, immer wieder auf und ab, als könnte ich dem Druck irgendwie entkommen. Jede Bewegung fühlt sich schwer und unangenehm an, als würde mein Körper rebellieren gegen das, was ich tun soll. Die Übelkeit schwappt in Wellen über mich, und meine Hände zittern, während ich versuche, mich zu beruhigen. Aber es hilft nichts. Ich kann kaum atmen. Jeder Schritt, den ich mache, bringt mich näher an diesen Moment, den ich um alles in der Welt vermeiden will.

Ich will das nicht. Ich will es nicht tun. Ich will Adrian nicht hintergehen.

Mein Blick wandert zum Bett und ich sehe das kleine Päckchen Drogen, das Matteo mir letztens gegeben hat. Es liegt da wie ein stiller Zeuge meiner Verzweiflung. Mein Mund ist trocken, und mein Herz schlägt unregelmäßig. Ich weiß, was ich tun werde, bevor ich es überhaupt richtig begreife.

Ich gehe zum Bett, setze mich hin und nehme das Päckchen in die Hand. Meine Finger zittern, als ich es öffne. Ich zögere, aber der Gedanke daran, dass ich das durchstehen muss – dass ich irgendwie funktionieren muss – treibt mich weiter.

Ich streue ein wenig Kokain auf meinen Handrücken. Zumindest machen sie es in den Filmen immer so, oder? Die Nervosität treibt mir den Schweiß auf die Stirn, als ich das Pulver auf meiner Hand anstarre.

Was mach ich hier nur?

Als würde ich zu Sinnen kommen werfe ich das Päckchen ziellos weg. Es knallt gegen die Wand und landet mit einem leisen Geräusch am Boden. Hektisch wische ich das weisse Pulver von meiner Hand.

Ich springe vom Bett auf und eile ins Badezimmer.

Ich gehe zum Spiegel starre auf das Gesicht darin. Blass. Hohle Wangen. Augen, die tiefer zu sinken scheinen, je länger ich hinsehe. Ich sehe krank aus, aber das bin ich nicht. Nicht wirklich.

Meine Hand greift nach der Make-up-Tasche.

Der Concealer kommt zuerst. Ich trage ihn auf die dunklen Schatten unter meinen Augen auf, als könnte ich damit das Leere überdecken. Der Pinsel zittert in meiner Hand. Dann trage ich noch etwas über die gerötete Stelle an meiner Schläfe auf. Ich muss es überdecken. Jede Spur.

Schicht um Schicht lege ich alles auf mein Gesicht, Puder, Rouge. Ich bewege mich, als hätte ich diese Routine schon tausendmal durchgespielt, weil ich es auch habe. Automatisch. Ohne nachzudenken.

Als ich fertig bin betrachte ich mich nochmals im Spiegel.

Es sollte reichen.

Ich lege die Make Up Tasche beiseite und gehe wieder ins Zimmer. Ich atme noch paar Mal tief durch aber ich weiß dass es kein zurück mehr gibt.

Deshalb gehe ich los. Aus meinem Zimmer, in den Flur.

Der Flur ist still. Von unten höre ich entfernte Stimmen. Meine Knie fühlen sich weich an, als könnten sie jeden Moment nachgeben. Ich bleibe für einen Moment stehen und halte mich an der Wand fest, versuche das Zittern in meinen Beinen zu ignorieren, aber es wird schlimmer. Ein Teil von mir fragt sich, ob ich es überhaupt bis zu Adrians Tür schaffen werde.

Doch ich zwinge mich weiter. Meine Hände sind schweißnass und ich spüre, wie mir das Herz gegen die Rippen hämmert, als ich endlich vor seiner Tür stehe. Die Tür zu seinem Wohnbereich.

Meine Hand hebt sich, doch sie zittert so sehr, dass ich kaum die Kontrolle darüber habe. Für einen Moment stehe ich nur da, unfähig zu handeln, wie eingefroren. Dann klopfe ich an. Ein dumpfer Laut der in der Stille hallt.

••

Adrian P.O.V.

Ich stehe vor dem Spiegel und zupfe an meinem Hemd, versuche, mich auf die bevorstehende Party zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab.

Bogota. Avery. Das, was zwischen uns passiert ist...

Es verfolgt mich, egal, wie sehr ich versuche, es zu verdrängen.

Plötzlich höre ich ein leises Klopfen an der Tür. Für einen Moment halte ich inne, überrascht. Ich zögere kurz, gehe dann aber zur Tür. Als ich sie öffne, stockt mir der Atem.

Avery.

Mein Herz beginnt sofort schneller zu schlagen, fast schmerzhaft gegen meine Brust. Es ist das erste Mal, dass ich sie wiedersehe, seitdem... seitdem alles in Bogota passiert ist.

Mein Blick fällt auf ihr Gesicht, und ein schweres Gefühl setzt sich in meiner Magengegend fest. Sie sieht so verdammt fertig aus. Ihre Haut ist blass, ihr Gesicht von Schweiß bedeckt und ihre Augen wirken leer, wie von einer inneren Qual, die sie nicht zeigt, aber die trotzdem durchscheint.

Ich schlucke hart. „Avery..." Meine Stimme ist ruhiger, als ich mich fühle. „Wie geht es dir? Ich habe gehört du bist krank?"

Sie antwortet nicht. Sie sieht mich nur an, ausdruckslos, als hätte sie all ihre Kraft darauf verwendet, hier zu stehen. Nach einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, sagt sie leise. „Kann ich... kurz reinkommen?"

Ich zögere. Mein Wohnbereich ist privat, aus Sicherheitsgründen. Normalerweise lasse ich niemanden hier rein. Doch Avery strahlt gerade eine Zerbrechlichkeit aus, die ich bei ihr noch nie gesehen habe. Ich kann nicht anders.

Ich sehe mich hastig um, meine Augen huschen über den leeren Flur. Keine Schritte, keine Stimmen. Niemand der uns sehen kann.

Trotzdem kann ich das flaue Gefühl in meinem Bauch nicht loswerden. „Klar..Komm rein, schnell..", sage ich leise und trete zur Seite, lasse die Tür gerade weit genug offen, damit Avery unbemerkt hereinkommen kann.

AveryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt