76. Heute Nacht

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Avery P.O.V.

Die Tür fällt leise ins Schloss und der dumpfe Klang hallt in meinem Kopf nach. Adrian ist weg.

Mein Herz pocht in meiner Brust und ich spüre den Druck auf meinen Schultern schwerer werden. Ohne zu zögern, mache ich mich an die Arbeit. Ich beginne bei der Kommode. Es fühlt sich so falsch an, seine Sachen zu durchsuchen. Aber ich habe keine Wahl.

Vorsichtig ziehe ich die erste Schublade auf. Mein Blick wandert über die ordentlich gefalteten Kleidungsstücke. Nichts Verdächtiges. Ich taste vorsichtig die Innenseite und dann die Unterseite der Schublade ab. Nichts.

Ich schiebe sie vorsichtig wieder zu, achte darauf, keine Spur zu hinterlassen. Dann öffne ich die nächste. Dasselbe. Nichts. Jede Bewegung, die ich mache, fühlt sich schwer und voller Schuld an, als würde ich ihn verraten.

Ich werfe einen schnellen Blick durch den Raum. Hier gibt es nicht viele Möbel – einen Schrank, eine Kommode, das Bett, zwei Nachtkästchen, die Couch. Der Schlüssel muss irgendwo sein.

Ich gehe zum Bett. Makellos. Die dunkelgraue Bettwäsche ist perfekt überzogen, ohne eine einzige Falte. Neben dem Bett stehen die zwei Nachtkästchen aus edlem, dunklem Holz. Alles hier ist so sorgfältig ausgewählt, so durchdacht und das macht es nur noch schlimmer. Es fühlt sich an, als würde ich nicht nur in seine Sachen, sondern auch in sein Leben eindringen.

Mit zitternden Fingern öffne ich die erste Schublade des linken Nachtkästchens. Leer. Mein Puls rast, und ich schließe sie schnell wieder. Dann gehe ich zur anderen Seite des Bettes. Doch bevor ich die Schublade öffnen kann, bleibt mein Blick an der Wand hängen.

Ein Bild.

Ich richte mich auf und gehe näher zur Wand hin um mir das Bild genauer anzusehen.

Eine Frau, ein Mann und ein kleines Kind. Die Augen des kleinen Jungen – die erkenne ich sofort. Adrian. Und die anderen Beiden müssen seine Eltern sein.

Langsam nehme ich es in die Hand um es genauer zu betrachten. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Seine Mutter... sie ist wunderschön. Sie war wunderschön. Jetzt ist sie tot. Und sein Vater. Weit weg, im Gefängnis. Ich spüre den Kloß in meiner Kehle, als ich das Bild in den Händen halte. All die Trauer, die er verborgen hält, scheint mir plötzlich übermächtig klar.

Ich will das Bild gerade zurückhängen, als ich ein seltsames Geräusch höre. Ein leises Klackern. Verwirrt halte ich inne. Ich bewege das Bild hin und her und da höre ich es wieder.

Mein Blick wandert über das Bild, und plötzlich wird mir etwas klar.

Ich drehe den Bilderrahmen um, meine Hände zittern leicht vor Nervosität. Vorsichtig löse ich die hintere Seite des Rahmens und dann... da ist er.

Versteckt hinter Adrians Familienfoto.

Der Schlüssel.

••

Adrian P.O.V.

Ich stehe unten im Wohnbereich, umgeben von Stimmen, Gelächter, und dem Klang klirrender Gläser. Menschen überall, die sich unterhalten, trinken, lachen – aber alles zieht nur dumpf an mir vorbei. Mein Kopf ist woanders. Am liebsten würde ich einfach wieder hochgehen, nachsehen, ob Avery in Ordnung ist. Aber Matteo lässt mir keine Chance auch nur für 10 Minuten wegzugehen. Wie ein Schatten folgt er mir, schiebt mich von einer Gruppe zur nächsten. Immer wieder werde ich in belanglose Gespräche verwickelt, in denen es um nichts geht, das von Bedeutung ist.

Ich nicke mechanisch, antworte mit einsilbigen Worten und versuche, nicht ungeduldig zu wirken. Doch mein Blick wandert immer wieder in Richtung Treppe. Mein Magen zieht sich zusammen bei dem Gedanken, dass Avery gerade jetzt alleine oben ist, während ich hier festhänge. Vielleicht ist sie schon in ihr Zimmer gegangen. Vielleicht schläft sie bereits.

AveryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt