81. Nicht mehr wie zuvor

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Avery P.O.V.

Ich lehne schwer atmend an einem Baum, die Rinde drückt sich in meinen Rücken, aber der Schmerz ist kaum spürbar.

Meine Beine sind wie Blei, ich habe keine Ahnung mehr, wie lange ich schon hier sitze.

Minuten? Stunden? Es spielt keine Rolle. Die Erschöpfung hat mich fest im Griff, so fest, dass ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. Meine Augen fallen immer wieder zu, doch ich zwinge sie auf.

Dann höre ich es. Zuerst nur ein leises Rascheln im Unterholz, fast zu unbedeutend, um es zu beachten. Doch dann – Schritte. Sie kommen näher. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Stimmen. Männliche Stimmen.

Mein Blut friert in den Adern und in meinem Kopf pocht nur ein Gedanke: Lauf.

Ich reiße mich vom Baum los, meine Beine zittern, als wollten sie mich im Stich lassen. Trotzdem zwinge ich sie, sich zu bewegen. Meine Schritte sind ungelenk, ich stolpere fast sofort über eine Wurzel. Es ist bereits die Sonne untergegangen, sodass ich Schwierigkeiten habe mich zu orientieren. Ich sehe kaum mehr als Schatten, verschwommene Umrisse von Bäumen, die mir den Weg versperren.

Ich drehe mich um, als ich es sehe – ein Lichtstrahl. Taschenlampen. Ihr Schein tanzt zwischen den Bäumen, schneidet durch die Dunkelheit wie scharfe Klingen. Sie sind nah. Viel zu nah. Ich muss weg.

Ich zwinge meine Beine, schneller zu laufen, doch der Boden unter mir ist voll von Wurzeln und Steinen, die ich in der Dunkelheit nicht sehen kann. Ich stolpere, fange mich gerade so, doch mein Gleichgewicht ist wackelig. Jeder Schritt fühlt sich wie ein Kampf an. Mein Atem geht keuchend, und mein Herz schlägt so laut, dass ich es in meinen Ohren dröhnen höre.

Die Taschenlampen kommen näher. Die Stimmen sind klarer, lauter. Sie reden miteinander, rufen Befehle. Es fühlt sich an, als würde ich jeden Moment ohnmächtig werden. Aber ich darf nicht stehen bleiben. Nicht jetzt.

Die Dunkelheit wird immer dichter. Ich stolpere wieder, stürze fast, und gerade als ich mich aufraffen will, knalle ich gegen etwas hartes. Kein Fels. Kein Baum.

Eine Person.

Ich schreie auf, ein hoher, panischer Laut, der die Stille zerreißt. Ich will zurückweichen, doch starke Hände packen mich, halten mich fest.
Ich schlage um mich, wild, verzweifelt, trete mit den Füßen nach allem, was ich erwischen kann. Ich schreie wieder, diesmal lauter, aus voller Kehle, als ob der Lärm mich retten könnte. „Lass mich los! Geh weg!" Meine Stimme ist heiser, gebrochen, aber ich schreie weiter, als könnte ich damit die Dunkelheit vertreiben, als könnte ich damit entkommen.

Doch der Griff um meine Arme wird nur fester. Ich winde mich, versuche, mich zu befreien, aber es ist sinnlos. Ich bin zu schwach. Die Erschöpfung hat meinen Körper zu sehr im Griff und meine Schläge sind kaum mehr als schwache Versuche, ihn abzuwehren. Die Panik in mir wächst, raubt mir den Atem, aber mein Körper gehorcht mir nicht mehr richtig.

„Hör auf, das bringt nichts," faucht eine tiefe, ruhige Stimme.

Ich schaue auf, mein Blick verschwommen von Tränen, die ich nicht einmal bemerkt habe, und sehe einen von Adrians Bodyguards. Sein Gesicht ist kühl und unerbittlich, beleuchtet vom schwachen Schein der Taschenlampen, die jetzt näher kommen.

„Lass mich los!" schreie ich, obwohl ich weiß, dass es keinen Sinn hat. „Lass mich gehen!" Ich trete nach ihm, treffe vielleicht sein Schienbein, aber er zuckt nicht einmal. Meine Schreie hallen durch den Wald, vermischen sich mit den Geräuschen der Schritte, die immer näher kommen.

Doch er hält mich fest, als wäre ich nichts weiter als ein störendes Hindernis. Meine Beine geben nach, mein Körper sinkt in seinen Griff und er hebt mich mühelos hoch. Ich schreie weiter, doch meine Stimme wird schwächer, brüchiger. Die Dunkelheit um mich herum schließt sich wie ein Netz, und der letzte Funken Widerstand in mir erlischt.

Ich wurde geschnappt.

•••

Adrian P.O.V.

Es ist 1 Uhr morgens. Ich sitze auf der Couch im Wohnbereich der Villa, umgeben von nichts als Stille. Die Luft fühlt sich stickig an, die Leere des Raumes erdrückt mich fast. Ein paar Securitys sind draußen im Wald, suchen immer noch, aber ich weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie zurückkommen – ohne Erfolg. Die restlichen Männer brauche ich bei den Clubs für die nächsten Tage. Matteo ist immer noch hier, denkt, er könnte mich aufheitern.

Mein Blick ist starr auf das Whiskeyglas in meiner Hand gerichtet, der Inhalt fast unberührt. Ich drehe es langsam zwischen meinen Fingern, während die Erinnerungen unaufhörlich durch meinen Kopf fluten. Bilder von Avery, ihrer Stimme, ihrem Lächeln. Wie sie mich angesehen hat. An alles was zwischen uns passiert ist.

Ich hätte es nicht zulassen dürfen, das weiß ich jetzt. Aber es war, als hätte sie etwas in mir berührt, das ich längst vergraben hatte.

Ich habe mir immer geschworen, mich nicht zu öffnen. Und trotzdem... trotzdem habe ich es bei ihr getan. Ich habe sie näher an mich herangelassen, als ich je jemanden heranlassen wollte. Dachte für einen Moment, vielleicht könnte es anders sein. Aber das war dumm. Schwach. Naiv.

Sie hat mich hintergangen. Ich hätte es wissen müssen. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber was noch mehr schmerzt, ist die Tatsache, dass ich sie nicht loslassen kann. Nicht wirklich. Sie ist in jedem Gedanken, in jeder verdammten Erinnerung.

Die Eingangstür schwingt plötzlich auf und ich höre die schweren Schritte der Männer. Sie sind zurück. Ich blicke nicht mal auf. Ich bereite mich schon darauf vor, dass sie mir wieder dieselbe Nachricht bringen werden: Nichts. Keine Spur. Wieder ein Fehlversuch.

Doch dann höre ich etwas anderes, das den Raum füllt. Etwas was mein Herz für einen Moment schmerzen lässt. Ein leises, schwaches Wimmern. Der Klang durchdringt die Stille wie ein Messer. Ich schaue auf.

Avery.

Sie steht da, zitternd, als ob sie selbst nicht wüsste, was sie tun soll. Ihre Augen sind müde, und so verdammt leer. Ihr Blick sucht den Raum ab, und dann treffen ihre Augen auf meine.

In diesem Moment zerbricht etwas in mir.

Es ist, als würde mein Herz in tausend Stücke zerspringen. Der Schmerz ist so intensiv, so überwältigend, dass ich es kaum ertragen kann. Ich hatte gedacht, ich wäre vorbereitet. Ich habe gedacht, ich könnte den Schmerz unter Kontrolle halten. Aber in dem Moment, in dem ich sie ansehe, verliere ich alles. Alles, was ich so mühsam in mir eingeschlossen hatte, bricht heraus.

Sie sieht aus wie jemand, der verloren ist, jemand, der alles durchgemacht hat. Und doch weiß ich, dass sie es war, die mich verraten hat.

Ich spüre den Verrat, den Schmerz, die Wut – alles gleichzeitig. Ich sollte aufstehen, sollte etwas sagen, sie zur Rechenschaft ziehen. Ich sollte wütend sein. Stattdessen sitze ich da, unfähig, mich zu rühren, während sie mich ansieht und alles, was ich fühle, ist ein tiefer, unaufhaltsamer Schmerz.

Und in diesem Augenblick weiß ich, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.

AveryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt