„Stehen schon Nachtischschälchen auf dem Tisch?" Kendra öffnete eine Schublade und holte kleine Löffel heraus.
Josh, der im Türrahmen zwischen Küche und Esszimmer stand und auf ihre Anweisungen wartete, nickte. „Es ist alles draußen. Bis auf die Löffel." Er hielt ihr die offene Hand entgegen, um ihr das Besteck abzunehmen.
„Du bist ein Schatz." Kendra reichte ihm die Löffel und schob die Schublade zu. Ihre Mutter hatte sie gebeten, den Mittagstisch für vierzehn Leute zu decken, da sie selbst einen wichtigen Anruf von einer ihrer Freundinnen bekommen hatte. „Vielen Dank für deine Hilfe, Josh."
„Kein Problem." Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Nimm das als Bezahlung dafür, dass ich hier schlafen durfte", neckte er.
„Das reicht aber nicht." Gespielt ernst sah Kendra ihn an. „Ich glaube, da müssen Sie noch etwas mehr machen, als nur den Tisch zu decken, Mr. Tucker."
„Alles, was Sie wünschen, Mylady." Josh deutete spaßhaft eine Verbeugung an, bevor er sich daran machte, die Löffel auf die vielen Plätze zu verteilen.
Neben Josh hatten auch Kendras Großeltern, sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite, sowie Samuels jüngere Schwester mit ihrem Mann und ihren zwei beinahe erwachsenen Söhnen bei den O'Ryans übernachtet.
Sie hatten heute beim Aufräumen geholfen und würden nach dem Essen nach Houston fahren, von wo aus Samuels Familie weiterfliegen würde. Lucys Eltern blieben dort, denn sie wohnten in Houston.
Am Esstisch setzte Kendra sich gegenüber von ihren Großeltern neben Josh. Es war amüsant anzusehen, wie er mittlerweile von allen als Familienmitglied akzeptiert wurde, obwohl er das rein biologisch gar nicht war.
Kendra freute sich, dass er in ihrer Familie endlich eine Heimat gefunden hatte, die er sein ganzes Leben nicht gehabt hatte. Sie kannte nur Teile seiner Geschichte von der Zeit bevor er zu ISASP gekommen war, da er nie darüber redete, aber sie wusste, dass seine Kindheit der ziemliche Gegensatz zu der ihren gewesen war.
Beide Eltern waren früh gestorben und Josh litt noch immer darunter, dass er es nicht geschafft hatte, seine Familie trotzdem zusammenzuhalten.
Und jetzt blieb ihm nur noch sein Bruder, der nichts von ihm wissen wollte sondern stattdessen alles darauf anlegte, ihn zu verletzen. Allein deshalb schon konnte Kendra Ryan nicht ausstehen.
„Was ist los?" Josh beugte sich zu ihr herüber.
Kendra schüttelte den Kopf. „Nichts, wieso?"
„Du hast die Stirn gerunzelt."
„Hab ich das?" Sie musste langsam wirklich lernen, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten. „Josh?"
„Ja?" Sofort hatte sie seine komplette Aufmerksamkeit. Sie bewunderte es ungemein, wie er jedem, mit dem redete, das Gefühl gab, die wichtigste Person im ganzen Raum zu sein.
„Du musst mir was beibringen."
„Schießen?" Er hob skeptisch die Augenbrauen. Das hatte sie ihn schon öfters gefragt, aber er hatte noch jedes Mal abgelehnt.
„Eigentlich meinte ich was anderes, aber ja, gerne. Wenn du es schon anbietest." Sie lächelte unschuldig.
„Das war kein Angebot." Er verdrehte halb belustigt, halb genervt die Augen. „Du weißt genau, dass das etwas ist, was ich dir nie beibringen werde."
„Du hast mir immer noch nicht erklärt, wieso."
„Ich glaube nicht, dass ein Frühstück mit deiner Familie der richtige Ort ist, um das zu klären, Kenny." Sie suchte in seinen Augen nach der Antwort, warum er nicht wollte, dass sie lernte, mit einer Waffe umzugehen, aber sie fand sie nicht. Was sie auf ihre ursprüngliche Frage zurücklenkte.
DU LIEST GERADE
Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...