Es war kurz vor Mitternacht und Ryan hielt gerade an einer roten Ampel, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick auf die Rückbank, auf der Kelsey saß, wie so oft um diese Uhrzeit etwas melancholisch-depressiv gestimmt.
Kein Wunder, bei der Aussicht, dass für sie gerade einmal die Hälfte der Nacht um war. Dass sie das hier freiwillig tat, glaubte er schon lange nicht mehr, aber sie vermied es so gut es ging, mit ihm zu reden und er hatte beschlossen, das zunächst zu akzeptieren.
Vielleicht sollte Kendra mal mit Kelsey reden. Mit ihrer Fröhlichkeit und Offenheit hätte sie vielleicht eine Chance, mit der Prostituierten ins Gespräch zu kommen.
Allerdings hatte er noch keine Möglichkeit gefunden, die beiden einander vorzustellen, ohne Kendra zu erzählen, welchen Job er für die Scotts erledigte. Chris hatte ihm das Versprechen abverlangt, ihr nicht davon zu erzählen und er kam eigentlich gut damit klar. Je weniger sie wusste, desto weniger war sie in Gefahr und desto weniger wäre sie wütend auf ihn.
Er konnte sich gut vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn sie herausfände, dass die Scotts eine treibende Kraft im Menschenhandel Nordamerikas und Kanadas waren – und Ryan es die ganze Zeit gewusst und ihr bewusst verschwiegen hatte.
„Ich werde kurz telefonieren, Kelsey." Im Rückspiegel suchte er ihren Blick.
Ihre Augen waren leer und ohne das Feuer, das sie an den frühen Abenden immer noch zumindest vorspielen konnte. Es waren ihre nächtlichen fünf Minuten, in denen sie zu keinerlei Schauspiel mehr fähig war und in denen Ryan es ihr jedes Mal ersparte, bei einem der Männer zu halten, die am Straßenrand warteten oder ihn anriefen.
Kelsey zuckte gleichgültig mit den Schultern, was er als Zustimmung deutete und die Trennwand hochfuhr, die ihn von ihr abschirmte.
„Ja?", meldete er sich.
„Ryan?" Es war Luke.
„Ja. Was ist los?"
„Es geht um Kendra." Das Zögern in Lukes Stimme ließ eine düstere Vorahnung in ihm aufkeimen, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben.
„Inwiefern?"
„Sie ist verschwunden."
„Verschwunden?" Kendra würde doch nicht einfach so abhauen, oder? Dazu war sie zu... vernünftig? Kendra? Nein, nicht wirklich. Er konnte nur hoffen, dass sie wenigstens einmal länger nachgedacht hatte bevor sie handelte.
„Ja. Ich kann sie nicht mehr finden. Verdammt, das ist alles meine Schuld!" Luke fluchte, hörbar besorgt.
Ein Hupen machte Ryan darauf aufmerksam, dass die Ampel grün war. Angespannt fuhr er los. „Luke, von Anfang an. Was ist passiert?"
„Sie wollte unbedingt in die Stadt fahren."
„Sag mir nicht, dass du das gemacht hast." Das konnte doch nicht wahr sein! Luke wusste doch, dass Ash irgendwo da draußen war!
„Doch. Hör zu, ich hatte sie die ganze Zeit im Auge. Sie wollte nur mal ein bisschen Spaß haben."
„Mir ist es dann doch wichtiger, dass Kendra und ich überleben, als dass sie mal einen Abend Spaß hat!", knurrte er wütend.
Nach Lukes Definition von Spaß wollte er lieber nicht fragen. Wenn Kendra etwas passierte... oder gar passiert war...
„Was habt ihr gemacht? Wo bist du jetzt? Seit wann ist sie weg?" Er hatte tausende Fragen. Er merkte, dass er sich nicht mehr auf die Straße konzentrierte, bog in die nächste kleinere Straße ab, hielt am Straßenrand und schaltete den Motor ab.
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Never Too Far
Novela JuvenilAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...