War er der einzige von ihnen beiden, der die Atmosphäre als aufgeladen empfand? Kendras erste Frage hatte ihrem nächtlichen Gespräch eine Tiefe gegeben, die er so noch nicht erlebt hatte. Die Ehrlichkeit, mit der sie antwortete, das Interesse, mit dem sie zuhörte und die aufmerksamen Fragen, die sie stellte wusste er mehr als nur zu schätzen.
Kendra rollte sich auf den Bauch und lag nun schräg auf ihrem Bett, den Kopf in seine Richtung und näher bei ihm. „Du hast mir nie erzählt, was mit deiner Familie passiert ist, bevor wir uns kennengelernt haben. Also mit deinen Eltern. Warum du Josh gehasst hast. Sowas."
Ryan schob eine Hand unter seinen Kopf und musterte die Decke über sich. „Meine ersten Lebensjahre habe ich in Manitou Springs in Colorado verbracht. Meine Mutter war drogensüchtig und untreu und ist mit einem anderen Mann durchgebrannt als ich zehn war. Dann sind wir nach Chicago gezogen, weil mein Vater die ganzen Erinnerungen nicht mehr ertragen konnte. Er hat Depressionen bekommen und sich selbst mit Alkohol therapiert. Wenn er betrunken war, ist er regelmäßig gewalttätig geworden."
„Er hat euch geschlagen?" Kendra klang geschockt.
„Meistens nur Josh. Er hat uns jedes Mal beschützt und die Schuld für alles übernommen, was Maya und ich getan haben. Er war mein Held." Er hielt kurz inne und wurde sich der Wahrheit seiner Worte bewusst. „Ich habe ihn immer bewundert und zu ihm aufgeschaut."
„Ich auch", sagte Kendra leise, wie als würde sie ihn nicht unterbrechen und gleichzeitig dazu bringen wollen, weiterzureden.
„In dem dreiviertel Jahr, das wir auf der Straße gelebt haben, bin ich in Kontakt zu Chris und Luke gekommen und habe mich mit ihnen angefreundet. Es war für mich eine Möglichkeit, an Geld zu kommen und Josh zu unterstützen, der irgendwie versucht hat, alles zusammenzuhalten. Dann hat er Mark kennengelernt und ist zum Geheimdienst gegangen. Ab da haben Maya und ich in Pflegefamilien gelebt."
„Weißt du, wieso Josh euch alleine gelassen hat?"
„Ich bin nicht sicher. Es war kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag mit dem er die Vormundschaft für uns hätte beantragen können. Ich glaube, er hat Angst davor bekommen, von einem Tag auf den anderen die ganze Verantwortung auch offiziell tragen zu müssen. Und das Geheimdienst-Ding war schon immer sein größter Traum."
„Vielleicht dachte er, ihr hättet bei anderen, erwachseneren Menschen ein besseres Leben als bei ihm, der gar nicht richtig für euch hätte sorgen können."
„Möglich." Ryan zuckte die Schultern. „Aber es war für mich damals ein Schock. Erst nicht von den Eltern gewollt und auf einmal auch von meinem großen Bruder alleine gelassen... Ich war einfach unglaublich enttäuscht von ihm."
„Das kann ich verstehen", sagte Kendra leise.
„Von den ersten Pflegefamilien, in die wir gekommen sind, habe ich Maya überredet, aus Prinzip abzuhauen. Ich dachte, wenn Josh merkt, dass wir ihn brauchen und nicht irgendwelche anderen Familien, dann würde er uns zurückholen." Nur hatte er das nie getan, auch wenn er zweifellos jedes Mal darüber informiert worden war, dass sie wieder abgehauen waren.
„Aber ihr wurdet jedes Mal wiedergefunden?"
„Die Polizei hat uns entweder zurückgebracht oder in eine neue Pflegefamilie. Ich habe irgendwann angefangen zu behaupten, sie würden uns misshandeln oder vernachlässigen – und im Zweifel glaubt man immer den Kindern."
Kendra wusste nicht, was sie sagen sollte. Alles, was sie herausbekam, war ein erschüttertes „oh".
Ryan lachte leise, aber es klang freudlos. „Tja, jetzt weißt du es. Noch weitere Fragen?"
Sie zögerte. „Wie kam es dass du so...", unbewusst begann sie kleine Kreise auf ihr Bettlaken zu malen, „... geworden bist?"
„Was? So ein Arschloch? Kleinkrimineller?"
„Player", haute sie viel zu schnell und unüberlegt raus. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Das würde er doch jetzt mit Sicherheit irgendwie falsch interpretieren.
Seinem lauernden, feixenden Blick nach zu urteilen hatte sie recht. „Player?" Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Selbst dir wird nicht entgangen sein, dass Bad Boys eine gewisse Anziehungskraft auf Frauen haben. Nimmt man dann noch mein unfassbar gutes Aussehen dazu..."
„Ryan!" Kendra verdrehte die Augen, war gleichzeitig aber froh, dass er die ernsthafte, angespannte Stimmung mit seinem Necken ein bisschen auflockerte.
„Selbst du kannst mir nicht widerstehen", stichelte er weiter.
Kendra warf ihr Kissen auf ihn, doch er begann nur zu lachen. „Beantwortet das deine Frage, Kenny?"
Sie zögerte. „Ich meinte eigentlich, warum du das alles gemacht hast. Ich meine, ich fühl mich schon schlecht, dass ich mit Landon geschlafen hab und du verbringst jede Nacht mit jemand anderem."
„Nicht jede Nacht", korrigierte er, aber seiner Stimme fehlte jede Spur von Humor. „Ich hatte die Möglichkeiten, also warum es nicht einfach tun?", ergänzte er leise, fast so, als würde er sich dafür schämen. Vielleicht tat er das auch, sie konnte es nicht einschätzen, denn sein Gesichtsausdruck hatte sich wieder verschlossen.
„Tut mir leid, falls ich mit der Frage zu weit gegangen bin", entschuldigte sie sich vorsichtig, wie als hätte sie Angst vor unberechenbaren Reaktionen auf jedes Wort, das sie sagte.
„Alles gut." Er warf ihr ihr Kissen zurück aufs Bett und ließ sich dann langsam zurück sinken bis er auf dem Rücken lag. „Ich brauchte die Zeit im Gefängnis um zu verstehen, dass es nicht so weiter gehen konnte. Auf allen Ebenen. Und vielleicht habe ich auch Mayas Tod dafür gebraucht." Bei seinem letzten Wort malte er Anführungszeichen in die Luft und seine Stimme nahm einen Hauch von Bitterkeit an.
Die Erwähnung des Namens ihrer besten Freundin versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sie setzte an, etwas zu sagen, doch er erzählte bereits weiter, als wäre seine Schwester ein Thema, das er nicht lange im Raum hängen lassen konnte.
„Jedenfalls hab ich dort Sawyer kennengelernt. Ich weiß nicht, warum ich mich auf die Gespräche mit ihm eingelassen habe. Vielleicht, weil er so verdammt anders war, als alle anderen Menschen, denen ich bisher begegnet war. Und es hat viel verändert."
„Sawyer ist ein sehr besonderer Mensch mit einer krassen Ausstrahlung."
„Das ist er", bestätigte Ryan.
Schweigend ließ auch Kendra sich in ihr Kissen zurücksinken und starrte an die mittlerweile so bekannte Decke des Zimmers. Nach einem Moment der Stille sagte sie leise: „Ich bin froh, dass es so gekommen ist. Ohne dich wäre ich in Houston bestimmt entdeckt worden."
„Und umgebracht", ergänzte er nonchalant.
Sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Hm."
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Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...