66. Kapitel

56 9 0
                                    

Ryan wusste sehr wohl, worauf er sich eingelassen hatte und dennoch war er im negativen Sinne überrascht.

Mit der Schulter lehnte er seitlich an einem Haus, unter dessen Dach er Schutz vor dem strömenden Regen gesucht hatte. Er beobachtete die schwarze Limousine am Straßenrand, mit den einseitig verspiegelten Seitenfenstern.

Das war also sein neuer Job: Prostituierte des Scott-Clans herum fahren und am Straßenrand darauf warten, dass sie mit ihren Kunden fertig waren. Es war kein neues Geschäftsmodell in das Chris Scott hier investierte und es rentierte sich klar.

Es gab mehr Kunden in ein und derselben Nacht, weil sie die Frauen nicht mehr mit nach Hause nahmen, sondern maximal bis zu einer Stunde Zeit hatten.

Vor anderthalb Wochen hatten die Scotts einen ihrer Fahrer nach einer Schießerei verloren, und heute Morgen beim Frühstück hatte Chris Ryan darauf angesprochen, ob er nicht den frei gewordenen Platz übernehmen wollte. Angeblich wollte Chris ihm so ermöglichen, etwas Geld zu verdienen, aber Ryan vermutete, dass noch mehr dahinter steckte.

Chris stellte eine Hierarchie und ein Gehorsamsverhältnis her, indem Ryan für ihn arbeitete. Außerdem fragte sich Ryan, ob es auch etwas mit Kendra zu tun hatte. Versuchten die Brüder, sie und ihn zu trennen, um Kendra womöglich auch für sich arbeiten zu lassen? Dieser Gedanke ließ ihm keine Ruhe.

Ryan warf seine Zigarette auf den nassen Boden und trat sie mit der Fußspitze aus. Seit er zu acht Jahren Gefängnisstrafe verurteilt worden war, hatte er nicht mehr geraucht. Aber der Mann, der vor einer viertel Stunde in die Limousine eingestiegen war, hatte ihm eine Zigarette und Feuer gegeben und einerseits war es seltsam vertraut gewesen, das anzunehmen, andererseits hatte er das Gefühl gehabt, eine Zigarette zu brauchen, um diese Nacht zu überleben.

Nicht, weil er müde war, sondern wegen des Jobs, den er ausübte. Er hatte mit der Frau, die er herumfuhr, kaum gesprochen, kannte nicht einmal ihren Namen, wusste nicht, ob sie das freiwillig tat oder nur aus Verzweiflung oder Zwang heraus.

Wütend trat Ryan mit dem Schuh gegen die Hauswand, an der er gerade eben noch gelehnt hatte. Er sollte so etwas nicht unterstützen! Aber Chris hatte ihm nicht wirklich eine Wahl gelassen und außerdem brauchten Kendra und er das Geld dringend, wenn sie wirklich so schnell wie möglich hier weg wollten. Wo auch immer es danach hingehen sollte.

Kendra.

Das war auch so eine Sache. Es gefiel ihm nicht, dass sie gerade einmal den zweiten Tag bei den Scotts waren und sie schon begann, so etwas wie eine Freundschaft mit Luke aufzubauen.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er gehofft, dass Chris' Bruder aus welchem Grund auch immer nicht mehr hier sein würde. Ihm war klar gewesen, dass Kendra den attraktiven und charmanten Luke anziehend finden würde. Das gefiel ihm nicht.

Er hatte Luke noch nie so wirklich einschätzen können, kannte ihn aber gut genug, dass er Kendra morgen Früh noch einmal ansprechen würde. Sie sollte definitiv die Finger von ihm lassen.

Während Ryan wartete, wurde der Regen weniger und ließ schließlich ganz nach. Die Fußgängerzone, an deren Straßenrand er geparkt hatte, füllte sich langsam wieder mit Menschen, die kurz vor Ladenschluss noch etwas einkaufen wollten.

Ryan sah auf seine Armbanduhr und dann zur Limousine hinüber. Die ausgemachte halbe Stunde war vorbei. Er stieß sich von der Hauswand ab, um zu dem Wagen hinüberzulaufen, als auch schon ein Mann ausstieg, der sich in hektischen Bewegungen das Hemd in die Hose stopfte und die Tür hinter sich zuschlug.

Ohne sich zu der Limousine noch einmal umzusehen, kam er auf Ryan zu und ließ einen Geldschein vor ihm auf den Boden fallen. Ohne ein Wort, als wäre Ryan Luft, reihte der Mann sich in den deutlich dünner gewordenen Strom der Fußgänger ein und verschwand bald in der Menge.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt