Eine gute Stunde später ließ der LKW-Fahrer sie aussteigen und verabschiedete sich mit einem Hupen, bevor er weiterfuhr.
Kendra sah sich um. Das war also Chicago. Sie war noch nie hier gewesen, auch wenn sie es sich immer gewünscht hatte. Man kannte ja die zahlreichen Filme und Serien, die hier spielten und das Ganze mal mit eigenen Augen zu sehen...
„Kommst du?" Ryan war bereits einige Meter weit gegangen und wandte sich jetzt wieder zu ihr um.
„Wohin gehen wir?" Der Plan war nur gewesen, hierher zu kommen, aber wieso eigentlich und was sie hier tun sollten, das durchschaute Kendra noch nicht ganz.
„Zu einem Freund. Er kann uns helfen, unterzutauchen, bis wir wissen, wohin wir gehen."
„Was ist das für ein Freund?", hakte sie misstrauisch nach.
Ryan seufzte. „Kendra, bitte. Ja, es ist einer von meinen alten Freunden, aber sonst kenne ich hier niemanden und er kann uns verstecken, bis wir einen neuen Plan haben."
„Wie heißt er?"
„Chris."
„Mhm." Ob Ryan den Nachnamen nicht kannte oder ihn nur nicht sagte, weil er ihn entweder für unwichtig hielt oder ihr nicht mitteilen wollte? „Und wer ist dieser Chris?"
Ryan trat einen Schritt näher zu ihr. „Er war in Chicago damals ein guter Freund. Bis wir... umgezogen sind."
„Meinetwegen. Ich meinte mehr, was er so beruflich macht." Kendra hielt seinem Blick stand. Wenn er darauf wartete, dass sie ihre Augen abwandte, hatte er sich geirrt, auch wenn ihr der Blickkontakt eine Spur zu intensiv wurde.
„Er ist Dealer." Ryan drehte sich abrupt um.
„Dann denke ich nicht..."
Er wandte sich wieder zu ihr um und diesmal loderten Wut und Leidenschaft in seinem Blick. „Was? Dass das Zuhause eines Drogenhändlers keine adäquate Unterkunft ist? Ist so jemand dann auch keine adäquate Begleitung?" Er trat einen Schritt zurück, breitete die Arme aus und deutete auf sich.
Kendra kniff die Augen zusammen. „Hör auf damit."
„Womit? Deine Gedanken auszusprechen?"
„Und wenn?"
„Dann ist das ziemlich erbärmlich von einer ach so guten Christin!" Ryan verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wie meinst du das?" Sie runzelte die Stirn.
„Dass du dich immer aufspielst, als wärst du die moralischste, christlichste Weltretterin schlechthin, dabei bist nur ein ganz normaler Mensch mit Fehlern, Vorurteilen und vorschnellen Urteilen."
War das das Bild, das er von ihr hatte? „So denkst du also über mich?"
Er sah sie an und einen Moment wirkte es, als würde er mehr sagen wollen, aber dann kam nur ein knappes „Ja" aus seinem Mund.
„Wow, danke." Kendras Stimme triefte vor Sarkasmus. „Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?"
„Hör auf, vorschnell über andere zu urteilen und gib ihnen eine faire Chance, Kenny. Das ist alles, worum ich dich bitte."
Sie sah das ein, auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, aber musste sie sich das ausgerechnet von Ryan anhören? Und dann auch noch wenn er sie Kenny nannte? Wie oft musste sie ihm eigentlich noch sagen, dass nur Freunde sie so nannten und er definitiv nicht zu ihren Freunden gehörte?
Als Ryan bemerkte, dass ihr darauf keine Erwiderung einfiel, hob er das ausnahmsweise nicht hervor, sondern begann ohne weitere Worte, die Straße entlangzulaufen. Kendra war froh, nicht noch einen spöttischen Kommentar ertragen zu müssen, aber andererseits zeigte sein Schweigen auch, dass er wirklich wütend auf sie war. Komischerweise war sie sich nicht sicher, was davon ihr lieber war.
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Never Too Far
أدب المراهقينAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...