Sie blieben noch zwei Stunden bei der Raststätte. Kelsey gelang es, einen Verkäufer zu bezirzen, dass sie über sein Handy ins Internet durften und Ryan eine E-Mail an Josh schreiben konnte, um nachzufragen, wann sie konkret da sein sollten. Auf die Antwort warteten sie eine ganze Weile, aber kurz nach zehn Uhr schrieb ihnen Josh endlich, dass alles fertig war und sie jederzeit eintreffen könnten.
„Gut, dass wir zwei Stunden Zeit verschwendet haben und jetzt schon dort sein könnten", murmelte Kelsey, als Ryan ihnen die Antwort verkündete, nachdem er das Handy seinem Besitzer zurückgegeben hatte.
„Immerhin wissen wir jetzt, was wir tun sollen." Ryan stand von seinem Stuhl auf und griff nach seiner Jacke. Und zusätzlich hatte er anderthalb Stunden schlafen können und fühlte sich wieder wie neu. „Kommt ihr?"
„Jetzt muss ich auf Toilette." Kendra erhob sich und schob sich an ihm vorbei. „Ihr könnt am Auto warten, ich bin gleich wieder da."
„In Ordnung." Ryan und Kelsey verließen gemeinsam die Raststätte und gingen zum Auto, beide ihren letzten Kaffee in der Hand.
„Kaffee rettet regelmäßig meinen Tag", bekannte Kelsey, als sie seinen Blick bemerkte.
„Kann ich nicht widersprechen." Ryan trank den letzten Schluck aus und warf den Pappbecher in einen Mülleimer neben ihrem – Lukes – Auto. „Sag mal, Kelsey, hast du eigentlich noch Familie?"
Ihr Blick verdunkelte sich. „Vier Geschwister."
„Vier?"
Sie nickte du lehnte sich gegen die Motorhaube des Wagens. „Ich bin die älteste."
„Weißt du wo deine Geschwister jetzt sind?"
Kelsey zuckte die Schultern. „Ich hoffe nur, dass es ihnen besser ergangen ist als mir."
„Darf ich fragen, wie du zu Mike und den Scotts gekommen bist?"
Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte, voller Zweifel, Trauer und gleichzeitig Vertrauen. Gerade setzte sie an, etwas zu sagen, als Kendra mit schnellen Schritten auf sie zukam.
Ihr Gesicht war alarmierend blass. „Wir sind in den Nachrichten."
Es war wie ein Déjà-vu. Vor vier Wochen hatte es eine ähnliche Situation gegeben, als sie auf dem Weg von Houston nach Brendshire gewesen waren. „Immer noch?", fragte er darum. Illinois hatte die Morde aus Houston doch bestimmt längst vergessen.
„Nein." Kendra stemmte die Arme in die Seiten. „Wir haben uns verrechnet. Chris, Luke und Mike haben unser Verschwinden bereits bemerkt. Sie behaupten, wir beide wären Gäste bei ihnen gewesen, hätten sie bestohlen und wären in der Nacht mit ihrem Auto geflohen."
„Was soweit ja auch stimmt", murmelte Ryan. „Seit wann sind sie so früh wach? Und wieso gehen sie damit an die Presse?"
„Sie haben das Nummernschild an die Öffentlichkeit gegeben. Unser Fluchtwagen wird jetzt gesucht."
„Haben sie etwas über mich gesagt?", wollte Kelsey wissen.
Kendra schüttelte den Kopf. „Nein, nichts."
„Vermutlich wollen sie nicht mit dir in Verbindung gebracht werden", mutmaßte Ryan. Er schätzte, dass Ash sich irgendwie mit den Scotts in Verbindung gesetzt und von ihrem Verschwinden berichtet hatte, um sie so in die Enge zu treiben.
„Okay." Kelsey wechselte den Kaffeebecher in die rechte Hand und fuhr sich mit der Linken durch die Haare. „Ich habe eine Idee."
„Immer raus damit." Sie konnten eine Menge Ideen brauchen, denn Ryan für seinen Teil sah nicht mehr ganz durch, was Ash bezweckte und inwiefern er womöglich mit den Scotts kooperierte.
„Wir organisieren euch beiden ein neues Fahrzeug und ich fahre mit Lukes Wagen alleine nach Cairo. Sollte ich aufgehalten werden, werde ich der Polizei irgendeine Geschichte erzählen, da fällt mir schon was ein. Zumal Mike nicht zugeben wird, mich zu kennen, wenn er nicht als Zuhälter verhaftet werden will. Wenn ich nicht aufgehalten werde, locke ich trotzdem Ash nach Cairo."
„Und wir?", fragte Kendra.
„Ihr nehmt euch ein anderes Fahrzeug, auf dem man euch nicht vermuten wird. Wenn ich ein paar kleinere Umwege fahre, solltet ihr trotzdem vor mir ankommen, selbst wenn ihr nicht selbst Auto fahrt."
„Was schwebt dir als Alternative vor?"
Kelsey zuckte die Schultern. „Motorrad? Per Anhalter? Traktor, Bus, irgendwas motorisiertes. Ich gebe euch drei Stunden Zeit, bis wir uns in Cairo treffen."
Ryans Blick fiel auf ein Motorrad, das einige Parkplätze weiter auf die Rückkehr seines Besitzers wartete. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sah, wie Kendras Gesichtsausdruck sich veränderte.
Abwehrend hob sie die Hände. „Ich werde ganz bestimmt nicht Motorrad fahren!"
Ryan legte einen Arm um ihre Taille. „Sag bloß, du hast Angst."
Damit hatte er sie und das wussten sie beide.
„Ich hab keine Angst! Ich kann es nur nicht fahren."
„Ist okay, ich mach das schon, Schatz", erwiderte er gelassen und zwickte sie leicht in die Seite.
„Dir ist schon bewusst, dass du unfassbar arrogant sein kannst?"
„Ja." Er grinste zufrieden.
„Okay, also sagen wir viertel nach eins spätestens in Cairo?", wollte Kelsey wissen. „Die Adresse ist noch im Navi eingegeben?"
„Ja. Zu beidem." Ryan nickte. „Hey, Kelsey."
Sie sah ihn erwartungsvoll an, während sie die Autoschlüssel in Empfang nahm, die er ihr reichte. „Ja?"
„Danke, dass du das machst. Das wissen wir wirklich zu schätzen." Aufrichtig sah er sie an. „Wir sehen uns in Cairo. Versprochen?"
Kelsey lächelte, als er vortrat und sie zum Abschied umarmte. „Versprochen."
* * * * *
Sie taten es genauso, wie er es geplant hatte, auch wenn der Vorschlag von Kelsey und nicht von Ryan gekommen war. Ash zündete seine neue Zigarette an und ließ das Feuerzeug wieder in seiner Jackentasche verschwinden. Selbst die Scotts und Mike waren berechenbar gewesen und auf seinen Deal eingegangen, auch wenn sie alles andere als begeistert gewesen waren, dass er sie aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Aber manchmal musste man eben Opfer bringen. Besonders wenn man eine wunderschöne junge Frau zurückhaben wollte, die mit am meisten Geld einbrachte. Lukes Auftritt in den Nachrichten war außerdem durchaus überzeugend gewesen, sodass Ryan, Kelsey und Kendra sich tatsächlich so getrennt hatten, wie er es vermutet hatte.
Ash schnippte mit dem Finger etwas Asche von seiner Zigarette und ließ sie aus dem Fenster seines Jeeps auf die asphaltierte Straße fallen.
Er liebte es, wenn alle so berechenbar handelten.
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Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...