54. Kapitel

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Erwartungsgemäß hatte Ryan nichts dazu gesagt, wann er heute frühstücken würde. Er wollte also weiterhin so kindisch sein und darauf bestehen, außerhalb des Autos keinen Kontakt mit ihr zu haben. Sollte er doch!

Kendra flocht ihre noch feuchten Haare zu zwei französischen Zöpfen, trug Wimperntusche auf und verließ das Bad. Der Gasthof, in dem sie gestern untergekommen waren, war nicht groß und am Rand der Stadt, was die Wahrscheinlichkeit, dass jemand herausfinden könnte, dass sie hier gewesen waren, hoffentlich auf ein Minimum reduzierte.

Die Frage, wie man so unauffällig wie möglich sein konnte und die sie sich vorher nie gestellt, bestimmte auf einmal ihr Leben. Es war ungewohnt. Sie wusste noch nicht recht, wie sie damit umgehen sollte und inwiefern sie ihr Verhalten noch mehr anpassen sollte. Das ganze überforderte sie einerseits, aber andererseits war es vermutlich das Aufregendste, was sie je erlebt hatte, auch wenn es ihr falsch vorkam, ihre Flucht so zu bezeichnen.

Kendra überprüfte noch einmal, ob sie nichts im Zimmer liegen lassen hatte und wirklich alles schon wieder in ihren Taschen verstaut war, bevor sie sich einige Minuten später als geplant auf den Weg in Richtung Speiseraum machte.

Der Gasthof Henshaw war ein Familienbetrieb, hatte ihr die Besitzerin am letzten Abend erklärt, als Kendra ihren Schlüssel alleine abgeholt hatte, da Ryan es nicht für nötig gehalten hatte, auch ihr ein Zimmer für die Nacht zu buchen. Die Frau des Hauses, eine betagte Dame in den Sechzigern und mit altmodischem Kleid und zu einem Dutt frisierten, grauen Haaren, stand am Büffet und verteilte gerade neue Kaffeekannen auf die Tische.

„Guten Morgen", grüßte Kendra höflich.

„Guten Morgen." Mrs. Henshaw schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Haben Sie gut geschlafen?"

„Ja, vielen Dank." Kendra konnte sich nicht daran erinnern, jemals nicht gut zu schlafen. Nur das Aufwachen war manchmal etwas schmerzhaft, wenn sie mal wieder auf der Couch vor dem Fernseher oder auf der Rückbank des Wagens ihrer Eltern eingeschlafen war. Aber ansonsten hatte sie den Schlaf eines erschöpften Babys. Tief und fest und kaum aufzuwecken.

„Möchten Sie gleich etwas Kaffee?", bot die Gastwirtin an und hielt eine der Kannen gefährlich nahe über ihre Tasse, aber Kendra schüttelte ablehnend den Kopf.

„Danke, aber ich trinke keinen Kaffee."

„Ich nehme gerne eine Tasse."

Kendra sah überrascht auf, als sie Ryans Stimme hörte. Er sah ein wenig müde aus, und wenn man von der Tatsache absah, dass er sie keines Blickes würdigte, wirkte er wie immer. Wobei, das war ja eigentlich wie immer. Die Ausnahme waren die Konversationen in den letzten paar Tagen gewesen.

„Gerne doch." Mrs. Henshaw nahm eine neue Tasse und füllte sie für Ryan mit Kaffee. „Milch, Zucker...?"

„Beides", antwortete Kendra für ihn. „Am besten von beidem viel, damit man den Kaffee nicht mehr rausschmeckt", fügte sie ironisch hinzu.

Mrs. Henshaw sah kurz verwirrt zwischen ihnen hin und her, dann kehrte das fröhliche Lächeln wider auf ihr Gesicht zurück. „In Ordnung."
Sie war sich vermutlich nicht mal bewusst gewesen, dass Kendra und Ryan ist überhaupt kannten.

Kendra schnappte sich eines der Tablette, stellte ihr Glas mit Bananensaft darauf ab, nahm sich einen Teller und Besteck und begann, am Büffet entlangzulaufen.

„Bananensaft? Ernsthaft?", hörte sie schon Ryans Stimme hinter sich.

„Besser als Kaffee mit so viel Milch und Zucker."

„Du musst übrigens nicht für mich antworten, Kenny", stellte Ryan klar und nahm ihr die Schüssel mit Rührei vor der Nase weg.

„Du warst eben zu langsam." Sie wusste selbst nicht genau, warum sie das getan hatte, aber er hatte sich schließlich auch in ihr beginnendes Gespräch mit Mrs. Henshaw eingemischt und es dadurch abgewürgt.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt