„Ich habe das Essen nicht gestohlen, Kendra, ich habe es gekauft."
„Mit gestohlenem Geld, Ryan! Was ist, wenn die Person es noch dringender brauchte als wir?" Kendra stemmte die Hände in die Seiten.
Gelassen nahm Ryan einen Schluck aus der Wasserflasche. „Daran zweifle ich. Komm schon, Kenny, sag mir nicht, dass du keinen Durst hattest."
Sie liefen den Weg zu einem Parkplatz entlang, den Kendra erfragt hatte und wo angeblich Fernreisende und Lastkraftwagen auf ihrem Weg nach Chicago ihre letzten Pausen verbrachten.
In der Zwischenzeit war Ryan im Supermarkt gewesen und hatte jemandem mit seinem von Ash erlernten Taschendiebgeschick die Brieftasche entwendet, das Bargeld herausgenommen und den Rest wieder zurückgesteckt. Damit hatte er dann Wasserflaschen, Brot und Käse sowie Äpfel gekauft, was für die nächsten drei Tage reichen sollte.
Kendra verdrehte die Augen. „Was ist, wenn du auf den Überwachungskameras beim Klauen entdeckt wurdest?"
„Wenn der Mann keine Anzeige erstattet wird sich niemand die Bilder ansehen, auf denen mein Diebstahl im Übrigen nicht festgehalten sein wird. Regel Nummer eins, wenn du so etwas planst: Schau wo die Kameras sind und geh ihnen aus dem Weg!", erklärte er nachdrücklich.
„Wenn das so leicht wäre!", schnaubte Kendra.
Ryan zuckte die Schultern. „Ich schätze, ich habe einiges mehr an Übung als du."
„Daran zweifle ich nicht."
Sie erreichten den Parkplatz, auf dem drei Lastkraftwagen standen, deren Fahrer sich unterhielten.
Ryan verlangsamte seine Schritte. „Du solltest zu ihnen gehen."
„Warum ich?", protestierte Kendra.
„Du bist eine Frau." Das war doch jetzt wirklich offensichtlich. Jeder Mann würde einer jungen Frau eher einen Gefallen tun als einem anderen Mann.
„Wow. Ist das dein Ernst?"
„Ja." Er zuckte leicht mit den Schultern. „Ich warte hier auf dich. Du darfst sogar die Einkaufstüte hierlassen."
Kendra schnaubte und reichte ihm die Plastiktüte. „Wenn wir nicht mit ihnen mitfahren dürfen, ist das deine Schuld."
„Daran zweifle ich. Hab Spaß."
„Ganz bestimmt."
Mit zu Beginn zögernden Schritten machte Kendra sich auf den Weg zum Parkplatz. Ryan setzte sich auf den Bordstein und folgte ihr mit seinem Blick, wandte sich dann aber von ihr ab. Die drei Männer sollten ruhig erst mal alleine mit Kendra reden. Ein anzüglicher, durchdringender Pfiff verkündete, wann sie bei den LKW-Fahrern angekommen war. Ryan konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Kendra würde ihm deswegen zweifellos den Hals umdrehen, sobald sie wieder zu zweit waren. Aber wenn einer der Männer sie beide mitnahm, wäre es ihm das definitiv wert.
Ryan malte mit dem Finger auf den staubigen Boden des Bürgersteigs, an dessen Rand er saß, die Einkaufstüte zwischen seinen Beinen. Es war erstaunlich gewesen, wie leicht es ihm gefallen war, wieder zu stehlen, auch wenn er wusste, dass sich das mit seinem neu gefundenen Glauben schwerlich vertrug. Aber was hätte er denn tun sollen? Irgendwie musste er Kendra und sich ja am Leben erhalten!
Kendra.
Ryan stöhnte frustriert auf. Er fand sie immer noch nervig, auch wenn er begann, sie zu respektieren. Aber was sollte das mit ihren Spielchen? Und warum um alles in der Welt hatte er sich darauf eingelassen? War es ihm wirklich so wichtig, dass sie merkte, dass er sich geändert hatte?
Die Antwort überrascht ihn: Ja. Wenn er ehrlich, war es ihm wichtig, wie andere ihn sahen, oder besser: dass sie die Veränderung sahen. Sawyer hatte ihm mehr als einmal erklärt, dass er neu anfangen konnte, dass das Teil des Geschenkes war, das sich Gnade nannte.
Und ja, tatsächlich störte es ihn, wenn andere ihm noch immer mit den Vorurteilen begegneten, die sein altes Ich zu verantworten hatte. Andererseits musste er zugeben, dass er sich Kendra gegenüber bisher nicht wirklich wie ein Gentleman verhalten hatte. Aber sie strapazierte einfach seine Nerven! In einem stummen Gebet bat Ryan um Geduld und einen neuen Blick auf Kendra. Sein Bruder hatte recht gehabt: Das Ganze würde nur funktionieren, wenn sie zumindest versuchten, sich zu verstehen.
Ryan warf einen Blick zu Kendra, die sich noch immer mit den drei Männern unterhielt, deren Blicke aufmerksam auf sie gerichtet waren. Ob er ihr helfen sollte? Aber sie würde das schon hinbekommen. Ihre Haltung deutete nicht darauf hin, dass sie Angst hätte oder angespannt sei, wie es heute Morgen beim Frühstück mit John und Tate der Fall gewesen war.
Ryan ballte seine rechte Hand zur Faust und schüttelte wütend den Kopf. Er hätte aufmerksamer sein sollen, dann hätte er bestimmt bemerkt, dass die beiden ihnen gefolgt sein mussten. Außerdem hätten Kendra und er nicht beide zu Surf'n'Copy gehen sollen, denn dann würden sie jetzt noch mit Geld, Kleidung und Essen in ihrem Auto sitzen und auf dem Weg zu Joshs Safehouse in Kanada sein.
Andererseits war es vermutlich gut, dass Kendra ihm in den Laden gefolgt war, denn wer wusste, was John und Tate getan hätten, hätten sie sie alleine in die Finger bekommen.
Ryan sah erneut auf, aber Kendra machte noch immer keine Anstalten, zu ihm zurückzukehren, also ließ er seinen Blick schweifen.
Der Parkplatz befand sich an einer größeren Straße, die aber jetzt, um die Nachmittagszeit, kaum befahren war. Wohnhäuser ragten grau und leblos zu beiden Seiten der Straße in den wolkenbedeckten Himmel empor. Das Wetter hatte bereits merkbar abgekühlt, je weiter sie in Richtung Norden gefahren waren, doch noch empfand Ryan das als angenehm. Während das Thermometer in Texas beinahe ständig die dreißig Grad-Marke überschritten hatte, und auch in den Nächten selten unter zwanzig Grad gefallen war, war der August im Norden Indianas im Durchschnitt fünf bis sieben Grad kühler und auch die Sonne schien nicht derart unerbittlich. Es war eine erleichternde Abwechslung.
Ryan begann mit dem Lederband um sein Handgelenk zu spielen, um seine Finger zu beschäftigen, während er nachdachte. Es war komisch, dass sie bis jetzt noch nichts von Suárez mitbekommen hatten. Der Boss des Drogenkartells würde die Ermordung seines Sohnes nicht ungestraft lassen.
Wenn er ehrlich war, musste Ryan sich eingestehen, dass er es für deutlich wahrscheinlicher hielt, dass sie von Suárez gefunden wurden als vom FBI, dem sie bis jetzt gut entkommen waren. Aber Suárez verkehrte in den gleichen Kreisen, die Ryan aufsuchen müsste, um erfolgreich unterzutauchen.
Vor ihm waren sie nirgendwo wirklich sicher, auch wenn Ryan bereits begonnen hatte, sich einen Plan auszudenken. Er hatte noch immer Kontakte in Chicago, die ihnen zumindest in einem zeitlich begrenzten Rahmen helfen konnten.
Ryan kniff die Augen zusammen, als er einen Mann auf der anderen Straßenseite sah, der in Kendras Richtung blickte. Er trug eine weite, braune Jacke und eine Schirmmütze, die sein Gesicht verdunkelte. Für einen kurzen Augenblick kreuzte sein Blick den von Ryan, bevor er sich abwandte und gelassen davon schlenderte. Die Art, wie er sich bewegte, kam Ryan seltsam bekannt vor. Konnte es sein...?
„Sie nehmen uns mit."
Ryan stand abrupt vom Boden auf und stieß beinahe mit Kendra zusammen, die überrascht einen Schritt zurückwich.
„Was ist denn mit dir los?"
„Nichts", murmelte Ryan abwesend und sah die Straße hinunter, aber der Mann war verschwunden und der Bürgersteig wieder so leergefegt wie gerade eben. Es war eine unheimliche Stadt.
„Was ist dort?" Kendra lehnte sich ein Stück zu ihm vor und folgte seinem Blick.
„Ich dachte nur ich hätte jemanden gesehen."
„Wen denn?"
Ryan reichte ihr die Einkaufstüte und bedeutete ihr, in Richtung der LKW-Fahrer zu gehen. „Ich glaube, er war es nicht."
„Wer denn, Ryan?"
„Ash Cooper."
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Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...