44. Kapitel

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„Mit wem hast du gesprochen?"

„Bailey." Es war komisch, nicht die ganze Wahrheit sagen zu können. Es fühlte sich an, als würde sie ihren Bruder und ihren besten Freund hintergehen. Aber Ash tat so viel für sie, indem er versuchte, ihre Unschuld zu beweisen, also würde sie ihm den Gefallen tun und nicht mit Mark und Josh über ihn reden.

„Hör zu, Kenny." Josh trat einen Schritt auf sie zu. „Du musst das nicht tun. Es gibt noch andere Wege..."

„Die aber alle zu offensichtlich oder undurchführbar sind", unterbrach Mark ihn. „Ryan ist die beste Möglichkeit, dich aus dem Land zu bringen. Glaub mir, mir gefällt das auch nicht. Aber ich will, dass du in Sicherheit bist."

„Das wäre sie auch bei uns!" Josh verschränkte die Arme.

Kendra erkannte, dass ihre Entscheidung einen Streit wieder aufflammen lassen haben musste. Wenn sich nicht einmal Mark und Josh einig darüber waren, was sie tun sollte, wie um alles in der Welt hätte sie dann ohne Ashs und Baileys Hilfe eine Entscheidung treffen sollen?

„Ist schon in Ordnung, Josh", erklärte Kendra, um ein Diskussion der beiden zu vermeiden.

„Siehst du?", griff Mark ihre Zustimmung sofort auf.

„Mir wäre es immer noch lieber, wenn sie nicht mit Ryan mitgehen würde", wiederholte Josh.

Kendra war überrascht, das von ihm zu hören. Hatte er nicht immer hinter seinem Bruder gestanden und ihn gegen die ganze Welt verteidigt? Und jetzt wollte er sie nicht mit Ryan alleine lassen?

„Ich kann hier aber nicht schon wieder für längere Zeit weg, Josh, sonst hab ich keinen Job mehr!", erwiderte Mark heftig. „Und tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass du die geeignete Person wärst, um auf unbestimmte Zeit alleine mit meiner Schwester durch die Welt zu reisen!"

Er spielte eindeutig auf Joshs Gefühle für sie an. Für Kendra war es eine unangenehme Situation, zwischen ihrem Bruder und ihrer beiden bestem Freund zu stehen. Vor allem, dass Mark Joshs Gefühle in dieser Art ansprach, war ihr peinlich und irgendwie schämte sie sich dafür, ohne dass sie den genauen Grund erklären könnte.

„Besser als Ryan wäre ich allemal. Mark, du kennst seine Geschichte, du kennst sein Verhalten Frauen gegenüber! Willst du das deiner Schwester wirklich zumuten? Auf unbestimmte Zeit?"

Josh schien ihren Blick zu meiden, also sah sie zu ihrem Bruder, doch auch der schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Es war, als wäre sie gar nicht im Raum – und momentan wäre sie das am liebsten auch.

„Warst du nicht derjenige, der standhaft behauptet hat, Ryan hätte sich geändert?", konterte Mark und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ja", antwortete Josh abwesend und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, bevor er resigniert die Arme in die Seiten stemmte.

„Du hast mir versichert, dass Ryan auf sie aufpassen wird, wenn wir ihn darum bitten, das reicht mir."

„Wird er auch. Aber wir reden hier über Ryan! Du kennst seinen Ruf und seine Geschichte." Josh warf Kendra einen kurzen Seitenblick zu. „Besonders was Frauen angeht", zischte er leiser, aber sie hörte es trotzdem.

Mark verschränkte die Arme. „Ich glaube, wir wissen beide, weshalb du deine Einstellung zu Ryan überdacht hast."

Jetzt war Kendra verwirrt. Was meinte ihr Bruder?

„Bitte, Mark", verlegte Josh sich aufs Bitten, etwas, was Kendra bei ihm noch nie bemerkt hatte, wenn er mit Mark sprach. Aber normalerweise stritten die beiden sich auch nicht ernsthaft. „Wir können auch hier auf sie aufpassen. Wie mit Neela damals", brachte Josh ein letztes, verzweifelte Argument an.

„Aber Neela wurde auch nicht vom FBI gesucht! Du weißt doch ganz genau, dass wir die ersten sind, bei denen die nach Kendra suchen werden. Dann können wir sie auch gleich ins Gefängnis bringen."

„Mark, Josh", lenkte Kendra die Aufmerksamkeit der beiden schließlich wieder auf sich. Immerhin ging es hier um ihre nächsten Tage, da hatte sie ja wohl das Recht, mitzureden. „Ich habe mich entschieden, mit Ryan mitzugehen und dabei bleibe ich."

Mark nickte zufrieden, Joshs Gesichtsausdruck hingegen verfinsterte sich. „Sicher?"

„Ja. Er ist dein Bruder, Josh, wir sollten ihm vertrauen." Das tat sie ganz bestimmt nicht. Aber um Ash bei seinen Ermittlungen zu helfen, musste sie eben mit Ryan zusammen fliehen und Josh wirkte noch überhaupt nicht überzeugt von dieser Idee, also musste sie das sagen, was er hören wollte.

Josh schnaubte und sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er ihr ihre Worte nicht abnahm. „Mhm, ganz genau. Und selbst wenn: Ich wette, Maya hat ihm auch vertraut." Ruckartig wandte er sich ab und verließ das Esszimmer. Die Tür schlug hinter ihm zu und unterstrich seine Worte wie mit einem Ausrufezeichen.

Etwas verunsichert sah Kendra zu ihrem Bruder hinüber. Die Nennung von Mayas Namen hatte sie irritiert, auch wenn sie wusste, dass genau das der Grund war, warum Josh sie erwähnt hatte. „Ist er wütend?"

Ihr Bruder seufzte. „Wenn, dann auf mich. Also mach dir keinen Kopf. Ich würde dir gerne die Route zeigen, die ihr neben werdet." Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie zum Esszimmertisch.

„Du weißt, dass ich keinerlei Orientierungssinn habe. Es ist egal, ob ich die Route kenne oder nicht."

„Nein. Solltet Ryan und du irgendwann mal getrennt werden, ist es wichtig, dass ihr wisst, in welcher Stadt ihr euch spätestens wiedertrefft."

Kendra spürte die Angespanntheit ihres Bruders, als sie sich über den Tisch beugte und die auf der Landkarte eingezeichnete Route betrachtete. Die erste Station war Liberal in Kansas, zu der eine Fahrtzeit von knapp zwei Stunden vermerkt war.

„Diese Strecke werdet ihr noch heute fahren, um erst mal aus Texas rauszukommen", erklärte Mark und fuhr mit dem Finger die markierte Strecke nach. „Dann geht es quer durch Kansas und ab da steiler nach Norden. Morgen solltet ihr bis Missouri kommen. Dann habt ihr einen kürzeren Tag mit etwa sechs Stunden bis zu einem kleinen Ort nahe Chicago. Von da fahrt ihr über die Grenze nach Ontario, wo ihr in einem kleinen Haus unterkommen werdet. In der Zeit, die ihr weg seid, werden Josh, Officer Hayes und ich alles daran setzen, eure Unschuld zu beweisen. Ich verspreche es." Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie.

„Ich weiß, dass ihr das schaffen werdet." Kurz überlegte sie, ihm doch von Ash zu erzählen, entschied sich dann aber dagegen. Was würde es schon bringen? Ihr Bruder kannte so viele Menschen, da war die Wahrscheinlichkeit groß, dass einer von ihnen über Ashs Ermittlungsverbot Bescheid wusste. Und das letzte, was sie wollte, war, Ashs Ermittlungen zu behindern, immerhin ging es hier auch um ihre Unschuld! Was nicht bedeutete, dass sie ihrem Bruder und Josh nicht zutraute, ihren Namen reinzuwaschen. Aber je mehr Menschen sich darum bemühten, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass es ihnen gelang, oder nicht?

„Okay", ergriff Mark das Wort und lenkte ihre Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. „Es gibt noch einiges, was wir mit euch beiden besprechen müssen, aber da Ryan sich sowieso gerade ausruht, wäre es gut, wenn du mit Mom zusammen schon mal ein paar Lebensmittel raussuchst."

Kendra nickte. Es erschien ihr unwirklich, dass sie sich in weniger als zwei Stunden mit Ryan Tucker auf der Flucht befinden würde. Sie hatte den unguten Verdacht, dass sie sich der vollen Tragweite ihrer Entscheidung erst bewusst werden würde, wenn sie unterwegs wären.

„Neela bringt dir ein paar Sachen her, die du brauchen wirst. Kleidung, Ausweis, Geld, Zahnbürste, sowas. Gibt es etwas bestimmtes, was du brauchst? Dann solltest du sie anrufen."

Kendra überlegte, aber auf die Schnelle viel ihr nichts ein, an was Neela nicht auch denken würde. „Ich glaube nicht."

„Gut. Dann hat Mom dir das Essen warm gehalten, also falls du noch Hunger hast..."

„Das klingt fantastisch."

Ein schwaches Lächeln zog über Marks Gesicht, das jedoch die Spuren der Anspannung nicht ganz vertreiben konnte. „Hab ich mir doch gedacht."

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt