32. Kapitel

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Kendra verließ den Strip-Club Red Mary gegen zwei Uhr nachts. Die meisten Gäste waren bereits gegangen oder mit den Mädchen auf den Zimmern und Micah hatte ihr erlaubt, früher zu gehen, weil es ihre erste Schicht war.

Sie musste sich erst an den neuen Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnen, das spürte Kendra deutlich.
Ihre Schicht begann in der Regel acht Uhr abends und ging bis fünf Uhr früh, was in etwa die Zeit war, in der sie normalerweise schlief.

Sie wusste schon jetzt, dass die nächsten Wochen sie an ihre körperlichen Grenzen bringen würden, aber wenn Mr. Sweeny und die Polizei dadurch dafür sorgen konnten, dass dem Menschenhandel hier Einhalt geboten wurde, dann wäre es das allemal wert gewesen.

Kendra war ein wenig enttäuscht, heute noch nicht allzu viel herausgefunden zu haben und nicht einmal den Bürgermeister getroffen zu haben, aber Mr. Sweeny hatte ihr gesagt, dass sie lieber alles langsam angehen sollte, um nicht erwischt zu werden und dass es wahrscheinlich sei, dass sie in der ersten Woche noch keine Ergebnisse sehen würde.

Sie müsse sich erst einmal an die Arbeit gewöhnen und Kontakte zu den Mädchen herstellen, bevor sie anfangen könnte, Fragen zu stellen. Nicht aufzufallen war also erst einmal ihre Hauptaufgabe.

Kendra stand vor dem Red Mary und sah die Straße nach links und rechts hinunter. Im Dunkeln sah alles anders aus, und sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen war. Es sah einfach alles gleich aus!

Sie wusste, dass sie zurück zur Hauptstraße musste, denn dort fuhr ihr Bus, also entschied sie sich, nach links zu gehen, wo sie weiter hinten kleine Lichter zu erkennen glaubte. Ob sie jetzt einen Umweg laufen würde oder nicht, war im Prinzip sowieso egal, denn müde war sie nach mehreren Kaffees nicht mehr, die sie getrunken hatte, in der Hoffnung, wach zu bleiben und gleichzeitig ihren Blutalkohol zu senken.

Sie wusste nicht, ob das auch mit Kaffee funktionierte, aber Wasser bot das Red Mary nicht und die Wasserhähne hatten verkalkt und nicht allzu sauber gewirkt, sodass sie sich lieber nicht selbst bedient hatte.

Kendra zog ihr Handy aus ihrer Tasche, das sie den ganzen Abend über nicht angerührt hatte. Auch nicht, als Ryan Tucker versucht hatte, sie herum zu kommandieren und ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hatte. Dieser aufgeblasene Fisch!

Ein Blick auf das Display ihres Handys verkündete, dass sie neun Anrufe verpasst hatte. vier von Josh, zwei von Mark, zwei von Rebekka und einer von Henry.

Hatte Ryan ihre ganze Familie alarmiert, dass sie in einem Strip-Club arbeitete? Sie schnaubte wütend. Was hatte er sich dabei gedacht, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen?

Kendra entschied sich, Mark zurückzurufen. Bei ihm schätzte sie die Wahrscheinlichkeit am größten ein, dass er noch wach war. Ausgenommen Josh, den anzurufen für Kendra momentan nicht infrage kam. Die letzten zwei Tage, die sie bereits in Houston war, hatten sie nicht miteinander gesprochen und das um zwei Uhr nachts nachzuholen wäre ihr angesichts ihrer momentanen Situation unpassend vorgekommen.

Es klingelte mehrfach bis sich ihr Bruder endlich meldete. „Kendra, wo um alles in der Welt steckst du?" Seine Stimme klang rau, als hätte er doch schon geschlafen.

„Hab ich dich geweckt?", fragte sie zerknirscht.

„Ja. Also, wo bist du?"

„Houston?" Er klang wütend, weswegen sie ihre Antwort ein wenig wie eine Frage klingen ließ. Sie wusste, was er meinte und was er eigentlich hören wollte: dass sie sicher in ihrem Hotelzimmer im Bett lag, ihr nichts passiert war und sie nie wieder auch nur einen Schritt in einen derartigen Club setzen würde.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt