Sie waren noch nicht lange unterwegs, als Kendra durch einen Blick in den Rückspiegel feststellte, dass Kelsey eingeschlafen war.
„Sie musste die ganze Nacht noch arbeiten", flüsterte Ryan, der ihren Blick bemerkt hatte.
Kendra verzog den Mund. „Wir hätten noch mehr von ihnen retten sollen."
„Wir werden die Polizei alarmieren, sobald wir das alles abgeschlossen haben", versprach Ryan. Sie sprachen beide leise, um Kelsey nicht zu wecken, während im Hintergrund Musik des christlichen Radiosenders lief, den Kendra eingestellt hatte.
„Findest du nicht auch, dass das alles unfassbar surreal wirkt?", fragte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens. „Ich meine, vor vier Wochen haben wir uns nur gestritten und vor fünf Wochen kannten wir uns kaum."
„Fünf Wochen sind eine lange Zeit, wenn man durchgängig auf einander hockt."
„Das stimmt."
„Außerdem offenbaren schwierige Situationen den wahren Charakter und davon hatten wir ja nicht gerade wenige."
Kendra nickte zustimmend. „Schade, dass ich nicht noch mehr von dieser Stadt sehen konnte."
„Sie ist nicht so besonders schön", versuchte er halbherzig, sie aufzumuntern, dass sie diese Stadt schon verlassen mussten. Wenn er ehrlich war, war er erleichtert, Chicago den Rücken kehren zu können.
„Vielleicht ist sie nicht schön, aber hier wurden viele Filme und Serien gedreht."Ryan lachte leise. „Achso, na dann."
„Ja. Wir sollten definitiv noch mal wiederkommen."
„Sobald Chris und seine Leute im Gefängnis sind, gerne."
„Hast du kein schlechtes Gewissen, dass wir deine Freunde verraten werden?"
Ryan warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, obwohl er sich vorgenommen hatte, das nicht mehr zu tun, seit sie ihm erzählt hatte, warum sie Angst vor dem Autofahren hatte. Aber er liebte es einfach, sie anzusehen und konnte nicht genug davon bekommen.
„Doch. Aber ein schlechtes Gewissen zu haben, bedeutet nicht zwingend, etwas Falsches zu tun. Ich glaube, in diesem Fall ist es das Beste für viele junge Frauen und noch zahlreiche andere Menschen, die unter der Familie zu leiden hatten. Es ist das Richtige, auch wenn das nicht immer leicht ist zu sehen, gerade bei Menschen, die man schon lange kennt. Wahrscheinlich war es gut, dass ich mich so geändert habe, bis ich hierher zurückgekommen bin. Sonst hätte mich das alles zu sehr beeinflusst und mir hätte die nötige Distanz gefehlt."
„Die nötige Distanz, um sie an die Polizei ausliefern zu können?"
„Ja." Ryan nickte. Er bemerkte, dass Kendra einen Zettel aus ihrer Hosentasche zog. „Was hast du da?", wollte er wissen.
„Ich habe eine Liste gemacht mit Sachen, die ich über dich wissen will. Mir ist aufgefallen, dass ich viele oberflächliche Themen noch gar nicht angesprochen habe."
Sie war wirklich süß. „Immer fang an mit dem Interview."
„In Ordnung. Das erste, was ich mich gefragt habe, war, ob du vor irgendetwas Angst hast."
Das klang beinahe so, als würde sie denken, er hätte vor nichts Angst. „Meintest du nicht was von oberflächlichen Fragen?"
Sie zuckte mit den Schultern und ein Lächeln spielte um ihre süßen, weichen Lippen. „So lernen wir uns noch besser kennen. Ist doch schön."
Er unterdrückte ein Lachen, um Kelsey nicht zu wecken. „Ich hatte sehr lange Angst verletzt zu werden oder alleine gelassen zu werden."
„Jetzt nicht mehr?"
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Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...