„Du schaffst das, Kendra. Du bist erwachsen, du bist selbstbewusst, du kannst dich wehren", murmelte sie leise vor sich hin, während sie sich einen Ruck gab und sich endlich auf den Weg in Richtung Bahnhof machte.
Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt, aber das hätte bedeutet, vor Ryan Schwäche einzugestehen und vermutlich hätte sie dann mit ihm nach Hause fahren müssen. Beides keine sonderlich schöne Aussicht, wie Kendra fand.
Sie straffte die Schultern und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, als sie immer näher an drei Gestalten herankam, die vor dem Eingang des Bahnhofes standen und leise miteinander zu reden schienen. Kendra wechselte die Straßenseite um so viel Abstand zwischen sich und diese Personen zu bringen.
Es war nachts halb drei, sie wollte nach Hause und war müde - und sie hatte Angst. Keine gute Mischung, um alleine unterwegs zu sein, wo sie sich nicht auskannte und wo laut Ryan nicht wenige Gefahren lauerten.
Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass er ihr nur Angst hatte machen wollen, um das Versprechen seines Bruders zu erfüllen.
Aber andererseits - das war Ryan! Er war loyal, ja, aber gegenüber Josh? Die beiden waren wie Feuer und Wasser!
Kendra lief weiter, entschlossen, sich von den drei Gestalten nicht einschüchtern zu lassen, die ihr entgegen kamen.
An den Silhouetten erkannte sie, dass es sich um Männer handeln musste. Trotz aller Vorsätze schnürte ihr Panik den Brustkorb zu und unwillkürlich fragte Kendra sich, wie viele Menschen sie wohl hören und einfach ignorieren würde, wenn sie um Hilfe riefe.
Das Viertel, in dem Ryan untergekommen war, machte auf sie nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck.
Sie war schon fast an den drei Personen vorbei als sie plötzlich mit einem Ruf aufgehalten wurde. „Entschuldigung?"
In ihr sträubte sich alles, stehenzubleiben, also tat sie, als hätte sie nicht mitbekommen, dass sie angesprochen worden war. Sie wollte einfach weiterlaufen, aber schon löste sich einer der Männer von der Gruppe und kam über die Kopfsteinpflasterstraße zu ihr gejoggt.
„Entschuldigen Sie, kennen Sie sich hier aus?", wollte der Mann wissen und schob sich seine Kapuze vom Kopf.
Er schien erstaunlich jung zu sein, wenig älter als sie selbst, und zumindest wirkte er nicht, als wäre er betrunken oder hätte irgendwelche Drogen genommen. Das waren schon mal gute Voraussetzungen, wenn sie auch die Gefahr nur minimal reduzierten, die von den Männern ausging.
„Ja", antwortete sie auf seine Frage, um den Eindruck zu erwecken, sie gehöre hierher und hätte Freunde oder Bekannte in der Nähe, die ihr im Zweifel helfen würden.
„Keine Sorge, wir tun Ihnen nichts." Der junge Mann hob unterwürfig die Hände. „Wir suchen einen Freund von uns, der sich hier verlaufen hat."
Kendra entspannte sich ein wenig, blieb aber dennoch wachsam und versuchte, immer auch die beiden anderen Männer im Blick zu behalten. Nervös umklammerten sie den Träger ihrer Handtasche, die schräg über ihrer Schulter hing. „Okay?"
Der junge Mann griff in seine Gesäßtasche und zog ein zerknittertes Foto heraus. „Das ist er. Haben Sie ihn gesehen? Er müsste seit einigen Tagen hier in der Gegend sein, aber dummerweise hat er vergessen, uns zu sagen, wo er wohnt."
Kendra nahm die Fotografie in die Hand und warf einen Blick darauf. Das Bild zeigte Ryan Tucker mit zwei anderen Männern, die an einem Tisch saßen und sich lachend mit Getränken zuprosteten.
„Haben Sie ihn gesehen?"
„Was wollen Sie von ihm?", antwortete Kendra mit einer Gegenfrage.
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Never Too Far
Teen FictionAls Kendra O'Ryan im Rahmen ihres Studiums einen Praktikumsplatz als investigative Journalistin in Houston angeboten bekommt, beschließt sie, anzunehmen - egal, wo es hinführt. Doch wer hätte gedacht, dass sie dort ausgerechnet Ryan Tucker wiedertre...