90. Kapitel

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Die nächsten zwei Tage vergingen und die Nächte, wenn Ryan von der Arbeit zurückkam, wurden zu den Zeiten, zu denen sie am meisten und am ehrlichsten mit einander sprachen. Ash ließ sich nicht blicken und wenn Kendra ehrlich war, hatte sie begonnen, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Dass das bei Ryan nicht der Fall war, merkte sie an seiner Anspannung, jedes Mal, wenn sie das Thema zur Sprache brachte. Die Tatsache, dass Ash anscheinend dachte, sie wäre mit Ryan zusammen fand sie amüsant, den Fakt, dass der Kuss in Chicago keine Einbildung gewesen war, fand sie hingegen bestürzend, faszinierend und wundervoll zugleich.

Die Aussicht darauf, Chris und Luke bald den Rücken zu kehren, hinterließ ein wenig Wehmut bei ihr, andererseits freute sie sich, jetzt, wo sie wusste, womit die beiden hauptsächlich ihr Geld verdienten. Sie war enttäuscht, vor allem von Luke und hatte tiefstes Mitleid mit den jungen Frauen, denen sie nie begegnet war. Insgeheim hoffte sie, dass Ryan und sie die Frauen befreien könnten, wenn sie flohen, zweifelte aber daran, dass das möglich sein würde.

Außerdem hatte Kendra endlich den Mut aufgebracht, Mrs. Hawkins zu bitten, bei ihren Einkäufen doch eine Bibel mitzubringen und sie hatte begonnen, nach dem Frühstück gemeinsam mit Ryan darin zu lesen, sich darüber auszutauschen und zu beten. Sie fand die Art, wie er betete und das Vertrauen, mit dem er mit Gott sprach, überaus faszinierend und inspirierend.

Sie begann, ihn mehr kennenzulernen, auf eine tiefere Art und Weise, als sie es für möglich gehalten hatte. Jedes Mal, wenn er in ihrer Nähe war, wurde sie gleichzeitig ruhig, weil sie sich beim ihm sicher fühlte, und aufgeregt, weil er ihr Herz zum Rasen brachte. Es reichte schon ein Zwinkern, eine ungewollte Berührung oder auch nur, dass er mit ihr redete und ihr dabei seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, damit ihr Bauch Purzelbäume schlug und sich die Schmetterlinge nicht mehr einfingen ließen.

Anders, als sie es zu Beginn ihres Verliebtseins gehofft hatte, waren ihre Gefühle für ihn nicht schwächer sondern stärker geworden.

Es war kein verliebt sein, kein Anhimmeln. So erschreckend und ungewohnt es war, das zu denken, wusste sie gleichzeitig, dass das die einzig richtige Antwort auf das alles war: Es war Liebe.

„Du bist doch verrückt", murmelte sie zu sich selbst, während sie für Mrs. Hawkins Wäsche im Garten aufhängte.

„Dabei stimme ich dir zu, wenn du jetzt schon Selbstgespräche führst."

Sie fuhr erschrocken herum. Sie hatte Luke nicht kommen gehört. Die letzten drei Tage hatte sie ihn nicht gesehen, weil er geschäftlich unterwegs gewesen war, wie er ihr an dem Morgen erzählt hatte, nachdem Kendra und Ryan ihr erstes nächtliches Gespräch geführt hatten. Es war also erst das zweite Mal, dass sie ihm unter die Augen trat mit dem Wissen, was er getan hatte und was er zahlreichen von jungen Frauen noch antat. Sie atmete tief durch und nahm sich vor, sich normal zu verhalten. Sie konnte nur hoffen, dass es klappen würde.

„Ich merke schon, charmant wie immer." Sie schlug mit einem nassen Handtuch nach ihm, das sie gerade hatte aufhängen wollen.

Luke wich lachend aus. „Die drei Tage haben mich nicht verändert, Baby. Mach dir keine Sorge"

Baby. So hatte Ryan sie letztens auch genannt, als er ihr von seiner Begegnung mit Ash erzählt hatte. Und obwohl er es ironisch gemeint hatte, hörte sie es von ihm lieber als von Luke. Oder genauer: sie wollte nicht, dass Luke sie so nannte, wie es Ryan tat. „Da bin ich aber erleichtert."

„Hey, warum so ironisch?" Luke legte von hinten seine Arme um sie.

Es fühlte sich gut an, wenn man außer Acht ließ, dass es Luke war. Warum machte Ryan so etwas nicht? „Ich hänge gerade Wäsche auf, ich bin nicht unbedingt gut gelaunt", wich Kendra aus und nutzte ihre freiwillige Aktivität als Ausrede.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt