84. Kapitel

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Obwohl sie heute früher ins Bett gegangen war als sonst, konnte Kendra nicht einschlafen. Sie wusste nicht woran es lag, dass sie sich einfach nicht müde genug fühlte, also hatte sie sich die Strickjacke von Ryan übergezogen, die er ihr in der Nacht gegeben hatte, in der sie betrunken gewesen war, und setzte sich damit auf die Verandastufen vor ihrem Haus.

Auf ihrem Schoß lag einer der Romane von Mrs. Hawkins, doch irgendwie konnte der sie heute nicht so ganz fesseln. Also saß sie auf den Stufen, starrte in die Dunkelheit und dachte nach.

Dabei war nachdenken zurzeit etwas gefährliches, denn oft betraf es Ryan und Luke. Zu oft.

Dass sie Luke mochte und ihn wirklich attraktiv und charmant fand, war für sie von Anfang an keine Frage gewesen. Sie hatte gedacht, daraus würde sich etwas entwickeln können, aber seit der Nacht vor einigen Tagen schien etwas zwischen ihnen zu stehen. Sie konnte sich das nicht richtig erklären, vermutete aber, dass er ihr etwas verschwieg. Sie war zwar neugierig und wollte wissen, worum es sich handelte, aber gleichzeitig hatte sie Angst vor der Antwort. Wollte sie das wirklich wissen?

Es war eine Ernüchterung festzustellen, dass sie doch keine Gefühle für ihn hatte, obwohl sie es sich irgendwie gewünscht und auch knapp zwei Wochen lang gedacht hatte. Sie mochte ihn wirklich gerne, aber... Ryan mochte sie lieber.

So erschreckend der Gedanke gewesen war, als sie ihn das erste Mal gedacht hatte, so natürlich fühlte es sich jetzt an. Sie würde Ran blind vertrauen, obwohl sie ihn vor zweieinhalb Wochen noch kaum gekannt hatte.

Sie begann tatsächlich, seinen Humor und seinen Sarkasmus zu mögen und in einer gewissen Form witzig zu finden, seine Persönlichkeit zu schätzen und sich nach seiner Gegenwart zu sehnen, wenn er nicht da war. Es klang verrück, vor allem, weil es hierbei um Ryan Tucker ging, aber die zarten Gefühle, die sich anbahnten, konnte sie nicht länger ignorieren. Jetzt musste sie sich nur Gedanken darüber machen, wie sie damit umgehen wollte.

Da vermutlich sowieso nicht die geringste Chance bestand, dass sie für ihn mehr war als ein naives, lästiges Anhängsel, wäre es wohl das Beste, wenn sie einfach schweigen würde und warten, bis es vorbei war. Denn etwas Längeres als eine kurze Schwärmerei konnte und würde das nicht sein.

Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus, als sie daran zurückdachte, wie sie ihn in Houston geküsst hatte. Sie hatte ihn schon immer attraktiv gefunden und in gewisser Weise bewundert, weil er gegen alles rebellierte und seinen eigenen Weg ging. War ihre frühere Abneigung gegen ihn aus Neid und Bewunderung entstanden?

Kendra schüttelte den Kopf. Ihre eigenen Gedanken verunsicherten und verwirrten sie. Sie wusste nicht, was das war, was sie fühlte, geschweige denn wie sie damit umgehen sollte. Sie wünschte, sie hätte ihre Familie um sich, um sie um Rat zu bitten. Neela zum Beispiel, die die Tuckers mit am besten kannte, oder Kate, die in Herzenssachen immer einen Rat hatte. Oder Rebekka und Bailey, die in jedem Fall immer ihre ersten Ansprechpartner waren. Stattdessen musste sie sich hier alleine durchboxen.

Sie verbrachte gerne Zeit mit Luke, das hatte sie in den letzten Tagen immer wieder gemerkt, aber noch viel häufiger fiel ihr auf, dass Ryan fehlte. Luke berührte sie oft an Hand oder Schulter oder scheinbar zufällig am Bein, während Ryan seit sie losgefahren waren eine körperliche Distanz aufrecht erhielt, die ja wohl ein eindeutiger Beweis war, dass er rein freundschaftlich – wenn überhaupt – zu ihr stand.

Warum also konnte sie sich nicht in den attraktiven, zuvorkommenden und einfach wundervollen jungen Mann verlieben, der scheinbar etwas für sie empfand?

Kendra klappte ihr Buch zu. Für lesen brachte sie jetzt keine Konzentration auf. Was sie jetzt brauchte, war etwas Zeit mit Gott, die sie sich in den letzten zweieinhalb Wochen viel zu selten genommen hatte. Es fehlte ihr, Bibel zu lesen, aber seit ihr Gepäck gestohlen worden war, hatte sie keine mehr bei sich und zweifelte daran, dass Chris und Luke Bibeln besaßen. Deswegen hatte sie gar nicht erst nachgefragt.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt