46. Kapitel

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Kendra sah sich neugierig im Eingangsbereich des kleinen Hotels um, in dem Ryan und sie die heutige Nacht verbringen würden. In getrennten Zimmern selbstverständlich. Etwas anderes konnte sie sich wirklich nicht vorstellen – einfach Nein.

„Hier ist dein Schlüssel." Ryan trat von der Rezeption zu ihr und ließ den Zimmerschlüssel in ihre offene Hand gleiten. „Essen gibt es noch bis zehn Uhr im Speisesaal. Der ist einfach den Gang runter."

Er deutete auf den Gang rechts neben dem Tresen, von wo die Rezeptionsdame sie ungeniert musterte.

„Ich würde sagen, wir bringen schnell unsere Sachen in die Zimmer und dann können wir was essen", schlug Kendra vor.

Ryan verzog spöttisch das Gesicht. „Das würdest du sagen?"

„Wir können sonst auch noch ein bisschen warten, wenn du magst", fügte sie schnell hinzu, verunsichert von seiner Antwort. Sie hatten nur noch zwei Stunden bis es kein Essen mehr gäbe, also war es da nicht naheliegend, jetzt gleich zu essen?

„Wieso genau gehst du davon aus, dass wir zusammen essen?"

„Oh." Kendra blinzelte überrascht. Das hatte gesessen.

„Wir sehen uns morgen früh um neun wieder hier, dann fahren wir pünktlich weiter." Mit diesen Worten griff Ryan nach seiner Tasche, die zwischen seinen Beinen auf dem Boden gestanden hatte, wandte sich zu den Treppen und ließ sie alleine im Foyer des Hotels stehen.

War das jetzt seine Rache, dass sie sämtliche Gesprächsversuche im Auto abgeblockt hatte?

Ihre Wut auf diesen arroganten Idioten nahm immer mehr zu, je weiter sie sich von Houston und Brendshire entfernten! Ob es irgendwann einen Höhepunkt gäbe und sie sich ab da endlich besser verstehen würden, ähnlich wie bei einer mathematischen Parabel? Aber selbst wenn nicht – sie würde ihn ab jetzt einfach ebenfalls mit Nichtachtung strafen!

Mit dieser Entscheidung fühlte sie sich gleich viel besser. Entschlossen schulterte Kendra den Rucksack mit Proviant, hob die verbliebenen beiden Taschen auf und wollte sich ebenfalls auf den Weg zu den Zimmern machen, als sie dem beinahe schadenfrohen Blick der jungen Empfangsdame begegnete. Kendra trat einen Schritt näher.

„Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie mit scharfem Unterton.

Die Frau schürzte die Lippen. „Danke, nein, Schätzchen."

„Ich bin nicht Ihr Schätzchen", stellte Kendra klar.

„Aber natürlich." Die Frau machte nicht den Eindruck, als würde sie sie ernst nehmen, was Kendra aufbrachte.

„Haben Sie ein Problem mit mir?", wollte sie wissen.

„Nein", antwortete die Rezeptionistin kühl. „Aber vielleicht sollten Sie Ihrem Begleiter diese Frage stellen."

„Weil?"

„Er scheint eindeutig nicht so viel von Ihnen zu wollen wie Sie von ihm. Er bestellt getrennte Zimmer, will nicht mit Ihnen essen..."

Kendra kniff wütend die Augen zusammen. „Es ist mir ziemlich egal, was Sie von uns denken, aber nur um das klar zu stellen: dass wir uns nicht ausstehen können, beruht auf Gegenseitigkeit."

Damit wandte Kendra sich ruckartig von der Rezeption ab.

Sie ignorierte das „Schon klar", der jungen Frau und wollte den gleichen Weg einschlagen, wie Ryan.

„Ihr Zimmer ist im Erdgeschoss", hielt die Rezeptionistin sie zurück, als Kendra am Fuß der Treppe ankam.

Kendra warf einen Blick auf den Schlüssel, in dessen metallenem Anhänger die Zahlen 021 eingraviert waren. Sie sah zu der jungen Frau, die in die andere Richtung deutete, zu einem Gang, der Kendra bisher nicht aufgefallen war, weil er von einem Blumenkübel halb verdeckt wurde.

Kendra rang sich ein „Danke" ab und stapfte zu dem Gang. Tatsächlich fand sie an dessen Ende ihr eigenes Zimmer. Brauchte Ryan etwa seinen Sicherheitsabstand zu ihr? Kendra schnaubte wütend, als sie die Taschen und den Rucksack auf den Boden gleiten ließ.

Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy, fand es und schaltete es ein.

Immerhin musste sie Ash so mitteilen, wo sie waren.

Kendra griff nach ihrem Zimmerschlüssel und machte sich auf den Weg in den Essenssaal.

Das Büffet war nicht sonderlich groß und üppig, was an der doch schon fortgeschrittenen Zeit aber auch an dem geringen Luxusstandard des Hotels liegen konnte. Vereinzelt saßen noch Gäste an einigen Tischen und unterhielten sich leise. Kendra stellte erleichtert fest, dass sie nicht die einzige war, die alleine an einem Tisch saß.

Während sie aß kreisten ihre Gedanken um die bevorstehende Flucht. Irgendwie fand sie das ganze aufregend – wenn man von der Tatsache absah, dass sie mit Ryan gemeinsam floh.

Aber sie könnte eine Art Polizeiarbeit machen und nach der Aufklärung des Falles sicherlich einen Artikel darüber veröffentlichen, vielleicht sogar im Houston Chronicle.

Das Ganze wäre filmreif, wäre sie mit einem charmanten, attraktiven jungen Mann unterwegs. Bei diesem Gedanken musste sie kichern.

Als sie beinahe fertig mit Essen war, ließen Stimmen sie aufblicken. Ryan betrat eben den Essenssaal – die Blondine von der Rezeption nahe an seiner Seite. Zu nahe. Die beiden schienen sich gut zu unterhalten, als sie zum Büffet hinüberliefen, sich zu essen holten und sich damit gemeinsam an einen Tisch setzten.

Kendra kniff wütend die Augen zusammen. Was sollte das? Nicht nur, dass Ryan ihre Flucht zu einem Date zu nutzen schien, nein, er behandelte sie auch noch als wäre sie Luft! Was sollte das? Hatten Mark und Josh nicht gesagt, sie müssten lernen, miteinander auszukommen? Ignorieren gehörte für sie auf jeden Fall nicht dazu!

Energisch schob Kendra ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie brachte ihren Teller auf den dafür vorgesehenen Wagen und verließ den Raum ohne Ryan und die Frau noch eines Blickes zu würdigen.

Sie musste sowieso noch bei einem ihrer Geschwister anrufen um ihnen mitzuteilen, dass Ryan und sie gut angekommen waren. Sie ging nicht davon aus, dass Ryan diese abendlichen Anrufe übernehmen würde, also machte sie sich auf den Weg, ein öffentliches Telefon zu suchen.

Never Too FarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt