Kapitel 200

1.4K 51 11
                                    

Sicht Leo
„Wincent, Leo ist wach" weint meine Mutter, während sie meine Hand hält.
Ich hab eigentlich noch nicht so ganz verstanden, was hier gerade los ist. Sie haben versucht, es mir zu erklären, aber verstanden hab ich nichts, außer dass plötzlich vier Jahre vergangen sein sollen. Gestern war ich noch schwanger, sollte meinen Sohn eigentlich erst in zwei Monaten bekommen und habe geheiratet... Jetzt hab ich einen vierjährigen Sohn und vor ein paar Wochen wohl auch eigentlich den vierten Hochzeitstag gehabt? Grade war kurz eine Ärztin hier und will später nochmal kommen... Das ist alles einfach nur Schwachsinn, das muss doch alles ein Scherz sein... Ja, ein riesiger Prank, der nicht im Ansatz lustig ist!
„Wincent kommt sofort her" flüstert meine Mutter, als könnte sie mich nur mit der Lautstärke ihrer Stimme kaputt machen...
Mein Papa sitzt auch neben mir, hat aber noch kein Wort gesagt, er hält nur meine Hand fest und schaut mich an, während Tränen über seine Wangen laufen. Ich hab ihn glaube noch nie weinen sehen...
„Mama, Papa... bitte redet mit mir, ich verstehe nichts!"
Eigentlich wollte ich schreien, aber es kommt nur ein Krächzen aus meinem Mund.
„Jetzt wird alles wieder gut" kommt es dann von meinem Papa und er drückt einen Kuss auf meine Hand.
„Was wird wieder gut? Ich verstehe nichts, was ist hier los?"
„Komm erstmal wieder richtig an" lächelt meine Mutter.
„Ich bin hier, ich bin anscheinend seit vier Jahren hier, bitte redet mit mir!"
„Sch... beruhige dich bitte" redet dann mein Vater auf mich ein und streicht mir Tränen von den Wangen.
Ich hab nichtmal richtig mitbekommen, dass auch ich weine.
„Ich verstehe nichts, was ist hier los?"
„Du lagst im Koma, nach einem Autounfall gefolgt von einem Notkaiserschnitt... Gleich kommt Wincent, zusammen mit Kilian, eurem Sohn..." Kilian... Kili... das war mein Favorit... „Ein unglaublich toller Junge, er hat so viel von dir" lächelt Papa mich an und dann klopft es an der Tür.
Sie geht langsam auf und Wincent kommt rein. Hinter ihm ein kleiner Junge, ich erkenne braune Wuschelhaare. Wincent sieht mich kurz einfach an, bevor er näher kommt und sich auf den Stuhl setzt, den Papa ihm frei gemacht hat.
„Hey" kommt es leise von ihm.
„Hey" erwidere ich.
Neben Wincent steht der Junge, unser Sohn, und sieht mich schüchtern an. Beide sehen mich also einfach an und ich sie. Wincent sieht müde und fertig aus, Kilian wie ein gesunder kleiner Junge, der wirklich eine Mischung aus Wincent und mir ist. Er ist einfach perfekt und auch wenn ich ihn jetzt zum ersten Mal sehe bin ich komplett vernarrt in ihn.
„Wir lassen euch drei mal etwas alleine, ja?" kommt es von Papa, der Mamas Hand nimmt „Wir kommen später nochmal."
Die beiden geben mir noch einen Kuss auf die Stirn und gehen dann raus.
„Schaut ihr mich bitte nicht so an, als wenn ich eben von den Toten auferstanden wäre."
„Bist du aber, Leo... vier Jahre. Vier Jahre" seufzt er und lehnt sich zu mir runter, um seine Nase in meiner Halsbeuge zu verstecken.
Kilian steht immer noch etwas unschlüssig rum, also strecke ich meine Hand nach ihm aus... er ist immerhin mein Sohn, nicht?
„Mama?" fragt er mit großen Augen, woraufhin Wincent sich von mir löst und ihn auf seinen Schoß nimmt.
„Schatz?... unser Sohn, Kilian" grinst er mit Tränen in den Augen.
„Hey, Kleiner" schmunzle ich und kann meine Tränen schon wieder nicht kontrollieren.
„Darf ich dich knuddeln?" fragt er zuckersüß.
Lächelnd breite ich so gut es grade geht meine Arme aus und er kuschelt sich an mich ran. Wincent kommt dann auch noch dazu und so bleiben wir eine ganze Weile, bis die Tür aufgeht und Wincent sich nur leicht löst. Ich hatte meine Augen geschlossen und als ich sie öffne sehe ich nur, wie er sich anscheinend gerade ein paar Tränen wegwischt.
„Das ist echt ein schöner Anblick" grinst die Ärztin breit, als sie vor meinem Bett stehen bleibt „Also, ich hatte ja vorhin schon kurz nach Ihnen gesehen, aber Sie brauchten erstmal Zeit, richtig zu sich zu kommen, richtig?"
Ich nicke kurz leicht, während Kilian sich etwas anders hinlegt, sich dabei aber nicht von mir löst. Wincent sitzt neben mir und hält meine Hand fest.
„Wir müssen Sie definitiv noch eine Weile hierbehalten. Sie werden noch eine Zeit lang sehr eingeschränkt sein, aber ich bin zuversichtlich, dass Sie wieder vollkommen gesund werden. Der Unfall hat sie extrem mitgenommen. Sie hatten damals starke innere Blutungen... Fähigkeiten wie Laufen oder gar richtig Sitzen und Stehen werden Ihnen erstmal schwerfallen. Sie werden Physiotherapie benötigen... Das wäre dann der einfachere Teil. Schwieriger ist es, dann wieder vollkommen ins Leben einzusteigen. Ich bin mir sicher, Ihre Familie wird Sie da sehr unterstützen, aber dennoch empfehle ich Ihnen, über Therapie nachzudenken... Aber alles mit der Zeit."
Alles mit der Zeit ist leicht gesagt, ich hab jetzt schon die Schnauze voll von diesem Zimmer! Ich will hier raus und meinen Sohn kennenlernen, Zeit mit meinem Mann verbringen. Nach meinem Empfinden sind wir seit gestern verheiratet, für ihn sind es vier Jahre. Vier Jahre sind lang... Außerdem hab ich so unglaublich viel vom Leben meines Sohnes verpasst.
Vom Rest den sie sagt bekomme ich gar nicht wirklich was mit. Ich kann ihr einfach nicht zuhören. Ich mustere vor allem Kilian genau durch, präge mir alles genau ein. Er hat eine kleine Narbe, die weitestgehend von seinen Wuschelhaaren bedeckt wird. Ich versuche mir vorzustellen, wie er wohl als Baby und Kleinkind aussah. Das hab ich alles verpasst und das werde ich auch nicht zurückbekommen. Als sie weg ist, sieht auch Wincent wieder zu mir.
„Ich werde immer an deiner Seite sein" flüstert er und lehnt seine Stirn gegen meine.
„Vier Jahre" hauche ich und sehe ihn mit feuchten Augen an.
„Ja und wenn wir die geschafft haben, schaffen wir auch noch alles, was sonst auf uns zukommt. Unsere gemeinsame Geschichte ist noch nicht vorbei."
„Ich hab die letzten Jahre nichts getan, ich-"
„Du hast nicht aufgehört zu atmen" unterbricht er mich.
Wincent sieht zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her, bevor er seine Lippen super vorsichtig auf meine legt. Sein Kuss bleibt kurz und zurückhaltend.
„Bah!" kommt es von Kili, woraufhin wir uns voneinander lösen.
Wincent grinst sofort und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Lauf nicht wegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt