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Als ich aus dem Zug trat, wehte mir ein angenehm kühler Wind entgegen. Ich sah mich um. Schüler tummelten sich auf dem Bahnsteig. Es wurde gelacht und ich sah überall sich umarmende Menschen. Claire hatte mir erzählt, dass am ersten Abend immer alle noch lauter waren als sonst. Ich wusste jetzt schon, was sie meinte. Es wurde geschrien, gelacht, gerufen, geredet und alles auf einmal. Eine Stimme brüllte über alle hinweg.
„Erstklässler! Erstklässler hier rüber!"
Das war Hagrid. Das hatte mir Claire schon erzählt. Der riesige Wildhüter. Ich ging zu ihm herüber. Er zwinkerte mir zu, dann sah er sich um.
„Nu mal los, mir nach- noch mehr Erstklässler da? Passt auf wo ihr hintretet! Erstklässler mir nach!"
Ich sah mich nach Draco um. Er ging ein paar Meter hinter mir und unterhielt sich angeregt mit Crabbe und Goyle. Ich stolperte fast und wenn ein Junge neben mir mich nicht festgehalten hätte, hätte ich mich wahrscheinlich auf die Nase gelegt. Der Junge hatte schwarze Haare, war eher blass und hatte dunkelblaue Augen.
„Danke!", sagte ich und zwang mich zu lächeln. Der Junge nickte lächelnd und wir gingen nebeneinander den schmalen, glitschigen Pfad hinunter durch den Wald.
„Augenblick noch und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts!", rief Hagrid über unsere Köpfe hinweg. Ich stellte mich aufgeregt auf die Zehenspitzen, konnte aber noch nichts sehen. „Nur noch um diese Biegung hier.", rief Hagrid. Der Junge mit den schwarzen Haaren und ich wechselten einen aufgeregten Blick.
Wir gingen um die Biegung und jeder von uns blieb wie angewurzelt stehen. Ein lautes „Oooh!" und „Aaah!" machte sich hörbar.
Vor uns lag ein großer, stiller, schwarzer See und dahinter thronte, wie in einem Film, Hogwarts. Das riesige Schloss stand auf einem Felsen und aus vielen kleinen Fenstern drang warmes Licht noch draußen. Warme Laternen beleuchteten den Weg, der den Berg hinauf zum Schloss führte und tausende von Zinnen und Türmchen verzierten die riesige Schule. Ich konnte meinen Blick fast nicht mehr abwenden, doch ich musste zu Draco sehen! Ich wollte sein Gesicht sehen! Wollte sehen, ob er ebenso begeistert war, wie die anderen oder ob er das ganze gelangweilt hinnahm, als würde er so etwas jeden Tag sehen.
Er sah aus, als würde er versuchen, sich seine Bewunderung und sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Er hatte die Augenbrauen gehoben und das einzige was verriet, dass er uns für unsere Begeisterung nur äußerlich verspottete, waren seine funkelnden Augen. Ich musste grinsen.
„Nicht mehr als vier in einem Boot!", rief Hagrid jetzt und ich bemerkte, dass vor uns auf dem Wasser des schwarzen Sees kleine Boote schwammen. Die meisten teilten sich in Vierergruppen auf und auch der schwarzhaarige Junge kletterte mit einigen anderen Erstklässlern in ein Boot. Ich setzte mich in ein leeres Boot und Draco, Crabbe und Goyle kamen dazu. Draco setzte sich auf die Bank neben mich und die anderen beiden hinter uns.

„Es ist wunderschön!", sagte ich leise, als die Boote von selbst über den See schwammen. Draco neben mir zuckte die Schultern, sah mich jedoch nicht an.
„Tu doch nicht so!", lachte ich.
„Was denn? Ich hab schon Bilder gesehen und das ist nichts besonderes!", sagte Draco ebenso leise, wirkte aber aus dem Konzept gebracht, weil ich ihn durchschaut hatte.
„Hör doch auf!", flüsterte ich grinsend. Er sah mich an und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Dann schwiegen wir, wie alle anderen. Immer noch bewundernd starrte ich das riesige Schloss an. Es war noch beeindruckender als Claire es beschrieben hatte und bei ihr hatte ich schon gedacht, sie würde übertreiben.

Als wir in die Nähe des Felsens kamen, rief Hagrid:
„Köpfe runter!"
Wir duckten uns und die Boote glitten lautlos durch einen Vorhang aus Efeu. Die Boote schwammen durch einen dunklen Tunnel und landeten in einer Höhle, an der mehrere Anleger angebracht worden waren. Ich kletterte aus dem Boot und ging neben Draco die Treppen hinauf, zur Wiese. Dort gingen wir den Hügel hinauf, bis wir zum Schloss kamen. Der dicke Junge hatte zwischenzeitlich seine Kröte wiedergefunden und sah jetzt um einiges glücklicher aus. Draco lachte höhnisch, als der Junge seine Kröte wiederbekam. Ich hätte es ihm gerne gleichgetan, aber der Junge tat mir irgendwie Leid. Das sagte ich natürlich keinem.
Wir stiegen eine breite Treppe hinauf, bis wir vor einem riesigen Tor standen. Hagrid erkundigte sich ob alle da waren und nach der Kröte des dicken Jungen, dann hob er die riesige Hand und klopfte an das Tor. Keine Sekunde später öffnete es sich und warmes Licht drang zu uns nach draußen. Vor uns stand eine große, grau-schwarzhaarige Hexe mit einem grünen Umhand und einem spitzen Hut auf dem Kopf. Sie sah streng aus. Draco und ich wechselten einen Blick.
„Professor McGonagall!", flüsterte ich. Claire hatte mir von ihr erzählt.
Hagrid stellte sie uns vor, dann übernahm Professor McGonagall uns und öffnete das Schlosstor ganz. Eine riesige Eingangshalle tat sich vor uns auf. Fackeln waren an den hohen Steinwänden angebracht und eine breite Steintreppe erhob sich vor uns. Ich versuchte erst gar nicht auszumachen, wo die Decke war. Stimmengewirr drang aus einem weiteren Tor in der Halle und eingeschüchtert betraten wir die Eingangshalle Hogwarts'. Wir wurden in ein kleines Zimmer geführt, dessen Tür mir davor nicht aufgefallen war. Das einzige, was den Raum erhellte war eine Fackel. Dicht zusammengedrängt standen wir in dem Raum, Professor McGonagall vor uns, wie ein Racheengel. Auch wenn sie wahrscheinlich nichts böses wollte, schüchterte sie mich mehr ein als ich zugeben wollte.
„Willkommen in Hogwarts.", sagte Professor McGonagall. Alle wandten ihre Blicke von den Wänden und der Decke zu ihr. „Das Bankett zur Eröffnung des Schuljahres beginnt in Kürze, doch bevor ihr eure Plätze in der großen Halle einnehmt, werden wir feststellen, in welche Häuser ihr kommt. Das ist eine sehr wichtige Zeremonie, denn das Haus ist gleichsam eure Familie in Hogwarts. Ihr habt gemeinsam Unterricht, ihr schlaft im Schlafsaal eures Hauses und ihr verbringt eure Freizeit im Gemeinschaftsraum.
Die vier Häuser heißen Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Jedes Haus hat seine eigene, ehrenvolle Geschichte und jedes hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Während eurer Zeit in Hogwarts holt ihr mit euren Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn ihr die Regeln verletzt, werden eurem Haus Punkte abgezogen. Am Ende des Jahres erhält das Haus mit den meisten Punkten den Hauspokal, eine große Auszeichnung. Ich hoffe, jeder von euch ist ein Gewinn für das Haus, in welches er kommen wird.
Die Einführungsfeier, an der auch die anderen Schüler teilnehmen, beginnt in wenigen Minuten. Ich schlage vor, dass ihr die Zeit nutzt und euch beim Warten so gut wie möglich zurechtmacht."
Sie ließ den Blick über die Menge gleiten und Draco und ich wechselten einen amüsierten Blick.
„Ich komme zurück, sobald für euch alles vorbereitet ist. Bitte bleibt ruhig, während ihr wartet."
Sie verließ den kleinen Raum und Gemurmel wurde breit.
„Ganz ehrlich, was glaubst du in welches Haus du kommst?", fragte Draco mich und Aufregung schwang in seiner Stimme mit.
„Slytherin oder Ravenclaw! Gryffindor will ich nicht und Hufflepuff passt einfach nicht! Ich hoffe, dass ich nicht nach Slytherin komme, die werden immer alle in so eine Schublade gesteckt, aber Ravenclaw sind auch immer so Streber...", ich redete irgendwie immer viel wenn ich aufgeregt war.
„Das mit der Häuserauswahl ist doch keine Prüfung oder so, oder?", fragte irgendjemand neben mir. Ich lachte leise. Das hatte Claire mir auch auftischen wollen, Fred und George hatten es ihrem kleinen Bruder auch erzählen wollen. Ich hatte Claire nicht geglaubt. Was für eine Prüfung sollte das denn bitte sein?
Plötzlich schrie jemand hinter mir auf. Andere stimmten in das Geschrei mit ein. Draco und ich drehten uns um und was ich sah, ließ mich näher an Draco heranrücken. An die zwanzig Geister, dreiundzwanzig, um genau zu sein, flogen plötzlich durch die Wand hinter uns.
„Geister!", sagte Draco neben mir überrascht. Unsere Schultern berührten sich.
Claire hatte mir schon von den „coolen" Schulgeistern erzählt, aber das was ich sah, fand ich gar nicht cool. Ein fetter Mönch schwebte über uns hinweg.
„Vergeben und vergessen, würde ich sagen, wir sollten ihm eine zweite Chance geben!", sagte er und zwinkerte einigen Schülern liebevoll zu.
Ein anderer Geist, der relativ albern und altmodisch aussah, antwortete etwas. Draco und ich wechselten einen Blick.
Plötzlich fingen der dicke Mönch und der altmodische, alberne Geist an, sich mit einigen Schülern zu unterhalten. Wieder wechselten Draco und ich einen Blick. Diesmal war er eher amüsiert.
„Verzieht euch jetzt!", wies die, plötzlich wieder aufgetauchte, Professor McGonagall die Geister zurecht. „Die Einführungsfeier beginnt."
Aufregung brach plötzlich wie eine Welle über mir zusammen. Ich wurde hibbelig und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
„Hör auf zu zappeln, du machst mich nervös!", fuhr Draco mich an, doch auf seinen Lippen lag ein Grinsen. Ich grinste beleidigt zurück, dann folgten wir der Anweisung, Professor McGonagalls und stellten uns nebeneinander in eine Zweierreihe. Wir folgten Professor McGonagall wieder in die Eingangshalle und dann durch das große Tor, aus dem das Stimmengewirr gekommen war in die große Halle.

he's just a boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt