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•Terry•

Ich ließ das große Portal hinter mir zufallen und versuchte, alle Gedanken an Padma zu verdrängen.

„Clarisse?", rief ich leise und lief durch den, wieder eingesetzten, Regen über das feuchte Gras weiter vom Schloss weg.

Der Regen spülte alle Gedanken weg und schon nach wenigen Minuten in denen ich Clarisse nicht fand, wusste ich nicht mehr, warum ich überhaupt nach draußen gegangen war.
Ich spürte langsam, wie mit jedem Regentropfen, der von meinen Haaren, meinen Wimpern, meiner Nase oder meinem Kinn tropfte, ein Stück Anspannung von mir wich und sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
Ich wusste nicht woher er kam.
Ich wusste nur, dass ich die Anspannung nicht komplett gehen lassen durfte, denn dann würden die Tränen sich einen Weg bilden und aus meinen Augen ins Freie finden und das wollte ich nicht.
Ich würde nicht heulen.
Nicht deswegen!

Als ich noch ein paar Schritte durch das Gras gestolpert war, zwang ich mich, mich wieder aufzurichten.

Und so stand ich einige Sekunden da und versuchte mich wieder zu sammeln, meine Gedanken wiederzufinden.

„Clarisse?", rief ich noch einmal, doch durch den aufkommenden Wind und den peitschenden Regen war meine Stimme nicht mehr als ein leises Flüstern. „Clarisse"

Doch sie war nicht hier.

Sie braucht Zeit für sich, Boot

Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die nassen, schwarzen Haare und verdrängte Padmas Stimme aus dem hohlen Inneren meines Schädels.

Sie soll die Klappe halten, machte sich eine schwache Meinung in meinem Kopf bemerkbar und ich holte zitternd Luft.

Verdammt, was war nur los mit mir?

Ich straffte noch einmal die Schultern, dann drehte ich mich um und kehrte zum Schloss zurück.
Padma hatte Recht, Clarisse brauchte Zeit für sich.
Und ich würde sie ihr geben.
Sie würde kommen, wenn sie reden wollte und sie würde gehen, wenn sie Ruhe brauchte.

Ich betrat das Schloss und warme Luft schlug mir entgegen.

Wie lange hatte ich draußen im Regen gestanden und nichts gemacht, außer Emotionen zu unterdrücken?
Meine Mauer durfte um keinen Preis brechen, das durfte sie einfach nicht!
Sie musste standhalten.
Sie musste existent bleiben!

„Terry?", hörte ich Anthonys leise Stimme hinter mir und drehte mich überrascht um, als ich sah, dass auch seine blonden Locken sich nass auf seiner Stirn kräuselten und die Gläser seiner Brille mit Regentropfen besetzt waren.
„Alles okay?"
Anthony zwang sich zu lächeln und ich schob die Hände in meine Taschen.
„Jaa", sagte er langgezogen. „ich war nur überrascht dich hier zu sehen."
Ich zwang mich zu einem losgelösten, echten Lächeln.
„Wenn du reden willst, kannst du gerne... also ich bin ansprechbar, okay?"
Anthony rang sich ein weiteres Lächeln ab.
„Danke, aber was sollte sein?"
Ich unterdrückte ein Augenverdrehen und zuckte die Schultern.
„Hätte ja sein können, dass du mir was erzählen willst, aber alles okay. Komm, wir ziehen uns was trockenes an."
Anthony nickte und nebeneinander liefen wir die Treppe hinauf.

Er hatte sich verändert.
Er war ernster geworden, machte nicht mehr so häufig Witze, lachte weniger. Er zog den Kopf ein, redete nicht mehr viel und versteckte sich hinter seinen Büchern und Hausaufgaben.

Aber es war wie bei Clarisse.

Wenn er reden wollte, würde er kommen und wenn er Ruhe brauchte, würde er gehen.

Als ich neben Michael und Mandy an einem Tisch im Gemeinschaftsraum saß und in einer Klatschzeitung von Sue herumblätterte, während Michael sich über Hausaufgaben beschwerte und Mandy sie ihm seelenruhig erklärte, ging die Tür auf und die Besitzerin der Zeitung in meiner Hand kam herein.

„Habt ihr Davis gesehen?", fragte sie uns und ich hob hinter meiner Zeitschrift nur eine Augenbraue.
„Warum?"
„Clarisse hat nach ihm gefragt."

Irgendetwas in mir fühlte sich komisch an.

„Was wollte sie denn von ihm?", hakte ich nach, während ich die Zeitung sinken ließ und Sue musterte.
„Sie... meinte, sie wollte mit ihm reden, er wäre gerade der einzige, der-" Sie unterbrach sich. „Ist doch vollkommen egal! Habt ihr ihn gesehen?"

Ich versuchte mir einzureden, dass Clarisse mit Davis nur über irgendwas banales reden wollte, doch es war schwer.

„Nein, sorry", sagte ich nur und verbarg mein Gesicht wieder hinter der Zeitschrift.
„Und ihr?", fragte Sue jetzt Mandy und Michael.
„Eben war er in der Bibliothek", antwortete Mandy und ich schloss kurz die Augen.

Sie will bestimmt nur mit ihm über die Hausaufgaben reden oder so

Doch so sehr ich auch versuchte es mir einzureden, irgendetwas in mir wusste, dass es nicht stimmte.
Dass es ein Thema gab, in dem ich ihr nicht helfen konnte.
In dem ich nicht ihr erster Ansprechpartner war und über das sie nicht mit mir reden wollte.

„Ist alles okay bei ihr?", fragte Michael und ich spürte, dass er mir durch die Zeitung einen Blick zuwarf.
„Ich weiß es nicht", antwortete Sue ehrlich. „Aber sie will jetzt mit Davis reden, ich gehe ihn weiter suchen, danke!" Ich hörte sie Lächeln und starrte auf das, sich bewegende, Bild von Celestina Warbeck vor meinen Augen.

Als ich am späten Nachmittag die Bibliothek betrat um mir ein Buch für die Hausaufgaben zu holen, sah ich Clarisse und Davis über ihren Hausaufgaben sitzen und heftig diskutieren.
Sie hatte die Hände um ihre Feder gekrallt und ihre Haare standen noch mehr ab als sonst, während er sie betrachtete und ab und zu fassungslos den Kopf schüttelte.

Einige Sekunden stand ich da und beobachtete die beiden, bis Clarisse' Blick den meinen kreuzte.

Sie lächelte kurz gezwungen, dann wandte sie sich wieder Davis zu.

In diesem Moment zerbrach etwas in mir in tausend Scherben.

Eine ganze Weile war ich der einzige gewesen, mit dem sie über private, ernste Dinge sprach.
Eine ganze Weile war ich der erste gewesen, mit dem sie über Dinge sprach, die sie bedrückten und eine ganze Weile hatte ich geglaubt, das würde immer so bleiben.
Ich hatte geglaubt, niemals würde sie mit jemandem über etwas reden, was gerade geschehen war und sie verletzte, bevor ich es wusste.
Ich hatte geglaubt, ich wäre für immer der Erste, an den sie sich wenden würde.

Doch anscheinend hatten auch die schönsten, vertrautesten, sichersten Dinge irgendwann ein Ende.

Ich bemerkte erst jetzt, wohin meine Füße mich getragen hatten, merkte erst jetzt, dass ich auf dem Hof in der Nähe von einigen rauchenden Siebtklässlern stand, die sich lachend unterhielten.

Ohne Vorwarnung spürte ich wieder diesen Kloß in mir aufsteigen, doch ich versuchte ihn herunterzuschlucken.

Ich würde nicht weinen.
Weinen war schwach, dumm und brachte überhaupt nichts!

Wütend auf mich selbst stapfte ich über den Hof um die Mauer herum und bis zu Clarisse' und meiner Stelle in der Ecke von Hof- und Schlossmauer.
Dort ließ ich mich auf den Boden fallen und starrte auf den Wald.

he's just a boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt