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Ich griff nach dem Pulli und unterdrückte den Drang, daran zu riechen.

Mit dem grünen Kleidungsstück in der Hand passierte ich die Eingangshalle und lief die breite Marmortreppe hinauf in Richtung Bibliothek.

Als ich davor stand, kam Draco gerade heraus.

Kaum dass er mich sah, blieb er wie angewurzelt stehen.

„Was machst du denn hier?"
„Dir deinen Pulli bringen, den du in der Halle vergessen hast", knurrte ich.
Draco nahm ihn mir aus der Hand.
Und ohne ein Wort zu sagen ging er an mir vorbei.
Ich schnaubte wütend.
„Stopp"
Draco blieb stehen und drehte sich zu mir um.
„Hm?"
„Wie wär's mit Danke?"
„Wofür soll ich mich bedanken?"

Die Wut wallte wie eine plötzliche Welle in mir auf und ich holte aus und schlug Draco mit voller Wucht ins Gesicht.

Er hatte es verdient. Er hatte es so verdient. Er hatte es verdient, dass ich ihm ins Gesicht schlug, dass ich ihn behandelte, als sei er Dreck und dass ich ihn keines Blickes würdigte, wenn er vorbeiging.
Er hatte es verdient für all den Mist, den er mir und meinem Herzen angetan hatte.
Er hatte es verdient für all die harten Worte, die mich Nachts hatten wach liegen lassen.
Er hatte es verdient für all die Blicke, die mich jedes Mal ein Stückchen mehr zersplittert hatten.
Er hatte es verdient für all die Tränen, die ich seinetwegen geweint hatte.
Er hatte es verdient für all die Mauerschichten, die ich nach und nach aufgebaut hatte, nur damit er mir nichts mehr anhaben konnte.
Er hatte es verdient für seine Arroganz.
Er hatte es verdient dafür, dass er ein eingebildeter Schnösel war, der andere heruntermachte, wenn sie nicht aus irgendeinem Grund einige Bonuspunkte bei ihm hatten.
Er hatte es verdient für all die Male, in denen er mir Hoffnungen gemacht hatte, um sie danach auf dem Boden zersplittern zu lassen und darauf herumzutreten.

Er hatte es verdient, dass jeder, den er beschissen behandelt hatte, ihm ins Gesicht schlug.

Aber ich war die einzige, die es tat. Ich war die einzige, die ihm zeigte, wie es sich jedes Mal, wenn er mich mit diesem kalten Blick ansah, anfühlte.

Und vielleicht war ich auch die einzige, für die es sich so anfühlte.

„Vielleicht dafür, dass ich dich nach all den Malen, in denen du mich hast fallen lassen, immer noch an mich heranlasse. Dafür, dass ich dir deinen beschissenen Pulli immer noch hinterhertrage, obwohl du mich behandelst als sei ich ein Fußabtreter. Vielleicht dafür, dass ich dich niemals gehasst habe, wie es alle anderen taten.", sagte ich und hasste mich dafür, dass meine Stimme nicht so wütend klang, wie sie sollte.

Draco sah mich an und fasste sich an die Wange, auf der sich ein roter Abdruck meiner kleinen Hand gebildet hatte.

Ich wandte meinen Blick nicht ab, als seiner stechend wurde. Ich wandte ihn nicht ab, als seine Augen wütend aufblitzten. Und ich wandte ihn nicht ab, als plötzlich etwas anderes in seinen Ausdruck trat. Fast wie... Reue.

„Danke"

Er sagte es so leise, dass ich fast dachte, ich hätte es mir eingebildet.

Ich muss wohl ziemlich überrascht ausgesehen haben, denn er lachte leise.

„Meinst du das ernst?", fragte ich und all meine Wut war auf einmal verschwunden.
„Ich meine es ernst", sagte er. „Ich habe... ich habe Fehler gemacht. Vielleicht können wir ja... sowas wie Freunde sein?"
Freunde?
Ein Teil von mir wollte ihn anschreien, wie dreist er war, zu verlangen, dass ich mit ihm befreundet sein sollte, doch der andere Teil (und der war deutlich größer) wollte nichts lieber als Ja zu sagen.
Noch einmal neu anzufangen.
„Wenn du mich nicht morgen wieder behandelst, als sei ich dein Bettvorleger"
„Oh, ich schätze meinen Bettvorleger sehr, glaub mir!"
Ich musste grinsen.
„Dein Bettvorleger kann sich glücklich schätzen"
„Das kann er"
Ich verdrehte die Augen.
„Dein Ego wird auch nicht kleiner, was?"
„Niemals"

he's just a boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt