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Die nächste Woche zog sich lang hin. Ein Tag kam, blieb zu lange und ging erst, wenn ich es schon fast nicht mehr aushielt. Der Unterricht zog sich in die Länge, das Essen zog sich in die Länge und die Freizeit zog sich in die Länge. Claire sah ungefähr so fertig aus, wie ich mich fühlte. Ich sah, wie Lee, George und Fred versuchten sie aufzumuntern, aber oft stand sie einfach nur in Lees Armen da und starrte ins Leere. Ich wusste, dass sie dachte, was ich dachte. Das es zu spät war. Unserer Mutter war nicht mehr zu helfen, Mom war todkrank und das konnten weder wir, noch die ausgebildeten Heiler im St. Mungo verhindern. Ich war die meiste Zeit bei Terry, einfach weil ich die seltsamen Blicke der anderen nicht aushielt. Terry hatte nicht gefragt, was das mit meiner Mutter war, was mit meinem Bruder passiert war oder sonst irgendetwas in der Art. Er redete mit mir über alltägliche Dinge und das war schön, denn so wurde ich nicht noch mehr an meine Mom erinnert, als sowieso schon.

Am Samstag Morgen saß ich zusammen mit meinen Freunden am Ravenclawtisch und wir aßen Toast mit Bakon und Spiegelei, als eine Eule vor mir auf dem Toastkorb landete. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte schwarze, weiche Federn und ihre Augen leuchteten gelb.
„Habt ihr die schonmal gesehen?", fragte ich die anderen und die schüttelten den Kopf. Ich band das zusammengerollte Stück Pergament von den Beinen der Eule und rollte es auseinander.

Hallo Clarisse.
Ich hoffe, deiner Mom geht es besser. Deine Schwester und du, ihr fahrt doch heute zu ihr, oder? Vielleicht kannst du sie ja von mir grüßen. Gute Besserung an sie. Komm mich doch am Montag nach dem Unterricht mal besuchen. Kannst auch ein paar Freunde mitbringen.
Hagrid

Ich sah die Eule an und strich ihr über die weichen Federn, dann flatterte sie davon.
„Wer schreibt?", fragte Davis und lugte mir über die Schulter. Schnell stopfte ich das Stück Pergament in meine Umhangtasche.
„Hagrid."
„Was will er?", fragte Padma und biss von ihrem Toast ab.
„Habt ihr Lust am Montag mit mir Hagrid zu besuchen?", fragte ich. Padma sah sich um.
„Wir?"
Ich lachte.
„Ja, ihr."
„Klar.", grinste Terry.
„Ich kann nicht", sagte Michael. „Ich muss in die Bibliothek.
„Ich auch nicht, ich muss noch McGonagall was fragen und das könnte länger dauern.", sagte Mandy entschuldigend.
„Ich bin am Montag mit meinem Bett verabredet!", sagte Padma und Anthony nickte.
„Ich auch."
Terry, Sue, Davis und ich sahen uns an.
„Da waren es nur noch vier.", grinste Terry. Ich nickte und versuchte zu lächeln und mich auf den Nachmittag zu freuen.

Ein paar Stunden später saßen Claire und ich im Bus aus der Stadt zum Dorf. Keiner sagte ein Wort, wir beide wussten, wie es dem anderen ging. Ich versuchte, nicht an meine Mom zu denken, sondern mich auf Montag Nachmittag zu freuen.
„Hast du Angst?", fragte Claire leise und ich griff nach ihrer Hand.
„Ja.", sagte ich leise. Die Sonne schien unangemessen warm und fröhlich durch die Busfenster auf unsere, ineinander liegenden Hände und ich hoffte, dass die Sonne ein gutes Zeichen war.
„Ich auch.", sagte Claire leise. Ich hoffte, dass unsere Angst meiner Mom half.
„Glaubst du, dass wir sie besuchen können?"
Claire sah aus dem Fenster.
„Hoffentlich."

Zwanzig Minuten später standen wir vor der Haustür. Keiner traute sich zu klopfen.
„Ich will nicht.", sagte Claire und machte einen Schritt zurück. „Ich will nicht!" Tränen schimmerten in ihren Augen.
„Wirklich nicht?"
Claire schüttelte den Kopf, kam aber wieder zu mir. Dann umarmte sie mich. Lange standen wir einfach nur vor unserer Haustür und umarmten uns, während die Frühlingssonne ihre Strahlen auf uns warf.
„Ich klopfe jetzt, okay?", sagte ich leise, als wir uns wieder voneinander gelöst hatten und Claire nickte.
„Einfach klopfen!"

Und ich klopfte.

Nach einigen Sekunden öffnete Lilly. Sie umarmte uns beide gleichzeitig und führte uns dann ins Wohnzimmer, wo Dad auf dem Sofa eingeschlafen war.
„Er ist Tag und Nacht wach und wartet auf Nachrichten aus dem St. Mungo. Ab und zu schläft er ein.", erklärte Lilly flüsternd und nahm Leo auf den Arm, der angekrabbelt kam.
„Guck mal wer da ist!"
Leo streckte seine kleinen Hände nach mir aus und ich nahm ihn auf den Arm.
„Hallo Leo", sagte ich leise und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Larisse!", quiekte er und nahm meinen kleinen Finger. „Larisse is da!"
Claire lachte, dann strich sie ihm über die Haare.
„Laire auch da!", sagte Leo und nahm eine von Claires Locken in seine Hand.
„Ja, Laire auch da.", sagte Claire leise und gab Leos Hand einen Kuss.
„Oh, Claire. Clarisse! Hallo, ihr seid ja schon da!" Dad kam auf uns zu und nahm uns in den Arm. „Na ihr beiden."
„Hallo Dad.", sagte ich leise und wünschte mir plötzlich, Terry wäre bei mir.
„Clarisse."
„Können wir zu Mom?", fragte Claire und Dad seufzte.
„Ich habe noch keine Nachricht erhalten."
Lilly verließ das Zimmer.
„Alles okay mit Lilly und dir?", fragte ich und Dad zuckte die Schultern.
„Sie meint, es wäre meine Schuld, dass Mom nur so knapp am Tod vorbeigeschlittert ist.", sagte er leise. Claire und ich wechselten einen Blick.
„Wo sind Grandma und Grandpa?", fragte Claire, um vom Thema abzulenken und Dad deutete aus dem Fenster.
„Sie machen einen verdienten Ruhespaziergang.", sagte er und ich beobachtete ihn. Bartstoppeln und Augenringe deuteten darauf hin, dass er sich wenig um sich kümmerte. Seine braunen Haare waren verwuschelt und seine blauen Augen sahen matt und müde aus. Ich hätte ihn gerne in den Arm genommen, aber ich hatte Leo auf dem Arm und irgendetwas in mir hatte Angst davor, dass mein Dad anfangen könnte, zu weinen.

Nachmittags bekam Dad eine Nachricht. Seine Augen leuchteten schwach auf.
„Was steht da?", fragte Claire und Dad reichte ihr den Brief. Ich lugte ihr über die Schulter.

Sehr geehrter Mr. Cole.
Hiermit teilen wir ihnen mit, dass es ihrer Frau, Rose Elizabeth Cole deutlich besser geht. Sie wird spätestens in drei Wochen wieder zu Hause sein können, aber wir empfehlen ihnen, ihre Kinder noch nicht mit zu den Besuchen zu bringen, die sie ab jetzt machen können. Ihre Frau wird noch mindestens ein Jahr zu leben haben, höchstwahrscheinlich sogar mehr als zwei, aber ihre Kinder dürfen ihre Frau erst wieder besuchen, wenn sie zu Hause ist, aus dem einfachen Grund, dass sie noch nicht wieder normal aussieht.
Liebe Grüße, Dr. Lenny, Chefheiler.

Vor Erleichterung lief mir eine Träne über die Wange.
„Es geht ihr gut!"
Dad nahm uns in den Arm und lange standen wir so da, Grandma, Grandpa, Lilly, Claire und ich, mit Leo auf dem Arm, und umarmten uns.
„Danke", flüsterte irgendjemand und als wir uns wieder voneinander lösten, standen allen außer Leo, der das ganze nicht begriffen hatte, Tränen in den Augen.

Wir saßen noch lange im Wohnzimmer und unterhielten uns, bis Claire, meine Großeltern und Lilly ins Bett gingen. Ich wollte meinen Dad noch wegen Snape fragen, weswegen ich noch auf dem dunkelroten Sofa sitzen blieb.
„Willst du nicht auch ins Bett gehen?", fragte Dad, als alle weg waren.
„Warum hast du mir nie von Snape erzählt?"
Dad senkte den Blick.
„Weil wir Streit hatten."
„Aber er hat mir gesagt, du hättest ihn gebeten, auf uns aufzupassen!"
„Das hat er gesagt?" Überrascht sah mein Dad mich an.
„Ja, dass hat er gesagt."
„Er... wir haben uns schon vor langer Zeit gestritten und uns bis heute nicht wieder vertragen. Das er auf meine Kinder aufpassen soll, das habe ich ihm gesagt, bevor wir uns gestritten haben. Als... Drake geboren wurde."
Ich starrte aus dem Fenster in die Nacht.
„Er hat mir erzählt, dass du und Lily Evans die einzigen waren, die ihn nicht wie einen Außenseiter behandelt haben."
Dad sah mich unglücklich an.
„Ja. Vielleicht war das so, in den ersten Jahren. Aber irgendwann hat Lily aufgehört, mit Snape zu reden und ist zu diesem Potter gegangen. Snape war allein, bis auf mich. Er war mein bester Freund, weißt du?"
Ich sah Dad an und dann fragte ich ihn etwas, was ich mich nie getraut hatte zu fragen.
„In welchem Haus warst du, Dad?"
Mein Dad sah mich einen Moment lang an, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Ich war in Slytherin."
Ich starrte Dad an.
„Was?"
Mein Vater nickte.
„Und... Mom?"
„Deine Mom war in Gryffindor. Sie war mutig, tapfer, schlau, fröhlich, einfach genau so, wie man als Gryffindormädchen sein muss. So, wie deine große Schwester ist. Genau so."
Ich sah Dad an.
„Aber sie hat sich geheiratet. Sie liebt dich. Obwohl du in Slytherin warst!"
„Nur weil ich in Slytherin war, heißt das doch nicht das sie mich nicht lieben kann, oder? Man muss doch für jeden Liebe haben, egal ob derjenige in Slytherin oder in Hufflepuff ist! Man muss doch jedem eine Chance geben, egal ob nett oder gemein. Hat nicht jeder ein Leben in Hoffnung verdient? In Liebe?"
Ich sah meinen Dad an.
„Haben ihre Eltern ihr auch gesagt, sie solle die Finger von Slytherins lassen?", fragte ich dann kühl und Dad senkte den Blick.
„Clarisse..."
„Was? Du kannst mir doch nicht verbieten, mich mit Slytherins anzufreunden, wenn du selbst einer warst. Du kannst mir doch nicht sagen, ich solle die Finger von Todesserkindern lassen, wenn du Mom liebst!"
Dad sah mich an.
„Was?"
„Moms Eltern waren Todesser!"
Dad starrte mich an.
„Was?"
„Tu doch nicht so!"
„Woher weißt du das?"
„Drake hat es mir mal erzählt...", sagte ich leise.
„Und woher wusste Drake davon?"
„Weiß ich doch nicht!"
Dad seufzte, dann schickte er mich ins Bett.

he's just a boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt