wie die Zeit

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~(Draco)

In der Vollmondnacht bekomme ich kein Auge zu. Zuerst versuche ich es mit Schlafen, doch meine Gedanken wandern immer wieder zu Isa – die jetzt irgendwo da draußen ist und als Wolf vermutlich Schreckliches durchmachen muss. Da ich die Augen einfach nicht zubekomme, tue ich das Beste, um mich abzulenken: Lernen.

In der vergangenen Zeit habe ich mich so sehr in die Schularbeit hineingesteigert, dass selbst Snape zu seinem alten, bevorzugendem Verhalten mir gegenüber zurückgekehrt ist. In Zaubertränke war Professor Slughorn so begeistert von einem meiner Tränke, dass er mich von den Hausaufgaben freisprach, ähnlich wie Professor Flitwick und Professor McGonagall, die es ebenfalls nicht nötig fanden, mich noch mehr lernen zu lassen.

Im Grunde tue ich nichts anderes mehr, als zu Lernen. Der Stoff füllt meinen Kopf dermaßen, dass ich alles andere vergesse: Isa, Voldemort, die Todesser und meine Eltern...

Die Decke der großen Halle ist regenwolkenverhangen und düster, der Februar schickt nasse Vorboten.

„Jetzt leg doch mal die verdammten Bücher weg, man", beschwert sich Blaise knapp zwei Wochen nach der schlaflosesten meiner Nächte beim Mittagessen in der großen Halle. „Willst du nichts essen?"

„Tue ich doch", murmele ich und steche mit der Gabel in Richtung meiner Bratkartoffeln, ohne die Augen von den Seiten zu nehmen.

Ein verhaltenes Gemurmel kriecht durch die große Halle; Irritiert blicke ich auf.

Filch, der Hausmeister, hastet zwischen den Tischen hindurch auf die Lehrertafel zu. Er hinkt so schnell, dass er fast über seine eigenen Füße stolpert.

Neugierig recke ich den Kopf, doch weil ich heute sehr weit hinten sitze, kann ich kaum etwas sehen.

Ich höre Snapes schneidende Stimme, der Schulleiter ist aufgesprungen, ebenso Professor McGonagall, welche rasch auf die Tür nach draußen zugeht, immer schneller, bis sie fast rennt. Es sieht lächerlich aus. Auch Snape schreitet durch die Halle, deutlich langsamer jedoch. Augenblicklich stirbt das Geflüster unter den Schülern, als er mitten in der Halle stehen bleibt und mit grimmiger Gelassenheit auf den Ausgang zur Eingangshalle schaut.

Blaise und ich tauschen einen Blick, dann zucke ich mit den Schultern. Das Buch über Verwandlung, angelehnt an eine Obstschale, zieht meinen Blick fast magisch auf sich. Was kann schon so wichtig sein, dass es mich vom Lernen abhalten würde? Ich überlege gerade, ob die Verwandlung eines Adlers in ein Fernglas so simpel ist, weil Adler exzellente Augen haben, da packt Blaise mich am Arm. „Draco", zischt er scharf, „Das musst du dir ansehen!"

Genervt schaue ich auf und recke den Hals um zu sehen, was Blaise so schockiert. Er scheint nicht der Einzige zu sein, der schneller begreift, als ich – nicht einmal Snapes überschattende Autorität kann das Gemurmel noch eindämmen. Mit gerunzelter Stirn bemerke ich, dass ein paar Schüler sich nun zu mir umdrehen und mich mit großen Augen ansehen.

Ich spähe zwischen ein paar Viertklässlern hindurch und erblicke den Hinterkopf einer schmalen Gestalt, die, flankiert von McGonagall und Amycus Carrow, auf Snape zuschreitet. Nasse Haare fächern sich lang und glatt über den Rücken der Person. Ich erhasche einen Blick auf Snape: Der Schulleiter runzelt die Stirn so konzentriert, dass ich selbst von hier hinten die Falten zählen kann.

„Draco", wiederholt Blaise, der immer noch meinen Arm umklammert.

Verärgert mache ich mich los. „Was ist denn?"

Blaise starrt mit offenem Mund zu Snape und der Fremden und gibt keine Antwort.

Die Person ist mittlerweile bei Snape angekommen, McGonagall umklammert ihre Hutkrempe und Snape wirft einen Blick über die Schulter. Dann packt er die Person am Arm und geht rasch mit ihr auf den Ausgang zu.

Zum ersten Mal sehe ich das Gesicht der Gestalt und habe plötzlich das Gefühl, alle Luft wäre aus meinem Körper gewichen.

Das vom Regen dunkle Haar reicht ihr mittlerweile bis zur Hüfte, doch es sind immer noch Isas hellblaue Augen, die aus ihrem leicht verdreckten Gesicht leuchten.


Die Tür zieht meinen Blick an, als wäre sie verhext. Eine gute halbe Stunde ist vergangen, seit Isa wie aus einer Kesselexplosion in der großen Halle erschienen ist und von einem ungewöhnlich perplexen Snape regelrecht abgeführt wurde. Seit dem sitze ich in meinem – unserem – Schlafraum und warte darauf, dass die verfluchte Tür sich öffnet.

Ein Kreis aus strömenden Fragen bewegt sich durch meinen Kopf und sehnen sich Antworten herbei. Und ich... ich sehne mich nach Isa.

Ich springe auf, als die Türklinke sich neigt.

Begleitet vom Knarren der Tür betritt Isa das Zimmer. „Halt", sagt sie, als ich einen Schritt auf sie zu mache. Mit angespannten Schultern beobachte ich, wie sie ihren Zauberstab aus der Tasche zieht... doch sie richtet ihn nur auf sich selbst und trocknet ihre nasse Jacke und die tropfenden Haare. „So." Ihr Blick trifft auf meinen und sie sagt mit erklärender Stimme: „Draußen regnet es."

Ich nicke. „Also...", sage ich mit schwerer Stimme und komme mir dämlich vor. „Du bist wieder hier... ?"

„Das bin ich." Es ist still und ich meine, irgendwo weit weg Stimmen zu vernehmen. Ich wünschte, mir würde etwas einfallen, was ich sagen könnte, aber die Stille baut sich zwischen uns auf wie die Zeit.

Ein Lächeln breitet sich auf Isas Gesicht auf und mit zwei Schritten überbrückt sie die Entfernung und schließt die Arme um mich. Merlin, ihr Lächeln..., denke ich, als ich mein Gesicht in ihre wieder hellblonden Haare schmiege. Sie fühlt sich anders an – ich habe nicht das Gefühl, sie könnte jeden Moment wie Würfelzucker zerbröseln oder vom nächsten Windstoß umgeworfen werden.

Ich schiebe Isa auf Armeslänge von mir weg und mustere sie eingehend. Sie hat Schatten unter den Augen und einen verblassenden Bluterguss, aber ihre Augen lächeln gemeinsam mit ihren Lippen, von denen eine aufgesprungen ist. „Du-"

„Du siehst müde aus", sagt sie und streicht mein Haar zurück. Ihr Blick wandert durch den Raum und fällt auf den Schreibtisch, auf dem sich Pergamente und zerbrochene Federn stapeln, hinüber zu meinem Bett, auf dem Bücher und herausgerissene Seiten dösen. „Hast du viel gelernt?" Ohne eine Antwort abzuwarten, schlendert sie zu ihrem Bett, das ich so lange habe leer stehen sehen, setzt sich darauf und beginnt, ihren Rucksack auszupacken. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie einen dabei hat.

Zurückhaltend setze ich mich neben sie. „Du-"

„Snape hat mich auch gefragt, wie ich hier hin gekommen bin. So sprachlos habe ich den noch nie erlebt!" Sie kichert. „Also – damit du nicht fragen musst: Ich bin appariert. Jaja, man kann nicht nach Hogwarts apparieren, aber nach Hogsmeade." Sie zuckt mit den Schultern. „Den Rest des Weges bin ich gelaufen und wurde vor den Toren freundlicherweise von einem der Carrows eingesammelt. Mir ist klar, dass ich gesucht wurde, oder, um genau zu sein, Greyback wird gesucht. Natürlich weiß ich nicht, wo er ist. Aber ja, er hat mich gehen lassen. Es hat-"

„Du hast dich verändert."

Isa sieht mich an. „Ja", sagt sie, „Es hat sich einiges geändert." Sie zieht ein schmales Messer aus ihrem Rucksack und betrachtet es mit schief gelegtem Kopf. Schließlich schiebt sie es unter ihr Kopfkissen. „Alles verändert sich, immer. Aber im Moment bin ich einfach froh, hier zu sein." Ihre himmelblauen Augen schauen mich ernst an. „Bei dir zu sein."

„Okay", sage ich, „Ich bin auch sehr froh."

moon & miseryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt