Kapitel 85

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Das ganze Wochenende habe ich weder Yuna noch meinen Bruder gesehen. Sie sind plötzlich von der Erdoberfläche verschwunden und haben einen deprimierten Taehyung dagelassen. Ohne seinen Ehemann scheint eine Seite von ihm zu fehlen, da er sich kein einziges Mal von der Couch bei sich zuhause bewegt hat. Eomma hat mich ein paar Mal rübergeschickt, um nach ihn zu schauen.

Jedenfalls sehe ich die beiden erst am Montagmorgen wieder, als Jeongguk uns zur Schule fährt. Aber irgendwie ist er komisch drauf, weil er kaum redet und sich auf die Straße konzentriert. Sonst macht er auch dumme Scherze oder regt sich über irgendwas auf. Dagegen scheint Yuna total fröhlich zu sein und strahlt über das ganze Gesicht. Vor der Schule parkt Jeongguk am Straßenrand und verabschiedet sich von uns, aber ich bleibe steif im Auto sitzen und starre aus dem Fenster, weil Yeesul vor dem Schultor steht und anscheinend auf jemanden wartet. Hoffentlich will sie mir nicht irgendeine Ansage machen, aber sie sieht nicht traurig oder wütend aus.

"Kommst du dann mit Yeesul nach Hause?", fragt Jeongguk plötzlich und mir rutscht das Herz in die Hose.

Er weiß überhaupt nicht, was am Freitag passiert ist. Was soll ich denn bloß sagen? Ich kann ihn doch nicht anlügen. Ich möchte schon meinen Mund öffnen, um ihm zu antworten, aber bemerke, dass er gar nicht mit mir redet, sondern mit Yuna, die schon ausgestiegen ist und breit lächelnd nickt. Was zum Teufel geht hier denn ab? Sie mag Yeesul doch gar nicht, warum treffen sich die beiden auf einmal? Mein Bruder lächelt seine Tochter liebevoll an und wünscht ihr noch einen schönen Tag. Danach schließt sie die Beifahrertür und läuft eilig über die Straße, um Yeesul fest zu umarmen. Entsetzt und gleichzeitig total verwirrt bleibe ich im Auto sitze und starre die beiden Mädchen, die sich gegenseitig wie die Sonne anstrahlen, an. Träume ich etwa oder was ist hier los?

"Steig doch endlich mal aus, du Spacko! Warum sitzt du immer noch in meinem Auto? Ich will zu Taehyung ins Bett", fordert mich mein Bruder genervt auf.

"Wieso verstehen die sich auf einmal?", frage ich schließlich aufgebracht.

"Dürfen sie das etwa nicht?", stellt mein Bruder eine Gegenfrage und sieht mich skeptisch an.

"Doch, aber als ich noch etwas von ihr wollte, dann konnte sie auf einmal niemand leiden", rutscht es mir aus Versehen heraus.

Ich reiße die Augen auf und beiße mir sofort auf die Unterlippe. Guk fängt an zu lächeln, aber dieses Lächeln ist keines der netten Weise, sondern ein 'Ich weiß ganz genau, dass du mir etwas verheimlich hast und werde dich dafür umbringen'. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, den ich versuche runterzuschlucken.

"Ich weiß alles, du kleines Arschloch. Du hältst dich ab sofort von Yeesul fern, sonst schlage ich dir sowas von auf die Fresse, sodass dir alle Zähne herausfallen und ich dir die neuen Zähne bezahlen muss. Du bist zwar mein Bruder, aber nach dieser Aktion kannst du mir einmal den Rücken runterrutschen", faucht er mich wütend an und dreht sich wieder nach vorne.

"Warum übertreibst du immer so?! Was kann ich denn dafür, dass ich Mino mehr mag?! Sie hat doch immer Stress angefangen, weil ihr irgendwas nicht gepasst hat. Irgendwann hält man das auch nicht mehr aus!", rufe ich genauso wütend zurück und bringe Jeongguk dazu, sich blitzschnell zu mir umzudrehen.

Seit Tagen werde ich nur noch angeschissen und muss mich mit irgendjemanden streiten. Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf die Scheiße. Egal, was ich tue, kriege ich eine Standpauke gehalten.

"Das ist ja so ein plausibler Grund, um jemanden vor der ganzen Schule bloß zu stellen und ihr das Herz zu brechen. Wie kann sie bloß jedes Mal einen Streit anfangen? Hörst du dir eigentlich selbst zu, wenn du redest? Niemand, mit Abstand niemand hat das verdient, was du ihr angetan hast. Stell dir mal vor, dass Mino sowas mit dir macht. Einfach mit einem anderen Weib herumknutschen und sich Knutschflecken verpassen, um anschließend in der Schule damit herum zu prahlen und anschließend der Person die Schuld zu schieben, weil sie Streitereien angefangen ha-", entgegnet er mit einer sarkastischen Tonlage, aber wird von mir unterbrochen.

"Fuck mich nicht ab, Jeongguk! Du hast doch keine Ahnung, was ich gerade durchmache, Alter!", schreie ich ihn an und will aussteigen, weil ich keine Lust mehr auf diese Diskussion habe, aber Jeongguk schließt die Türen ab, sodass ich nicht raus kann.

Plötzlich fährt er einfach los und erwidert nichts mehr darauf. Mit geweiteten Augen sehe ich meinen Bruder an, der viel zu schnell fährt und vor Wut zittert. Ich bin zu weit gegangen. Mein Herz beginnt zu rasen, als er nach wenigen Sekunden eine Vollbremsung an einer Kreuzung macht, um nicht in einen anderen Jeep zu rasen.

"J-Jeongguk, wo willst du hin?", frage ich ihn zögerlich.

"Halt deine verdammte Fresse, Jaemin", zischt er mich an.

Daraufhin schweige ich die restliche Autofahrt und merke, dass wir zum Waisenhaus fahren. Was wollen wir hier? Als er am Straßenrand geparkt hat, fordert er mich auf aus zu steigen. Schweigend tue ich was er verlangt und folge ihm anschließend ins Gebäude. Ein paar Kinder spielen zusammen im Flur und begrüßen Jeongguk glücklich, aber dieser schaut sie nicht mal an und stampft in sein Büro. Die Kinder sehen sich gegenseitig ratlos an, aber entscheiden sich zu meinem Unglück abzuhauen. Jeongguk geht zu einem Schrank, der in der Ecke steht, und schließt diesen auf, um dann kurz darin herum zu suchen, bis er eine Mappe herauszieht und diese dann auf seinen Schreibtisch zu knallen.

"Lese dir die ganze Mappe durch und sag mir dann, ob dein Leben so schwer ist", meint er und verschränkt seine Arme vor der Brust.

Er macht mir gerade so Angst. Unsicher nehme ich die braune Mappe in die Hand, die schon ihre besten Jahre schon hinter sich hat. Eigentlich arbeitet er nur mit seinem Laptop oder Tablet, darum ist es komisch, dass er mir eine Mappe aushändigt. Langsam öffne ich diese und mir springen haufenweise lose Zettel entgegen. Was zum Teufel ist das? Irritiert lege ich die Zettel auf den Tisch und blättere etwas durch um festzustellen, dass die Zettel von verschiedenen Leuten geschrieben wurden.

"Was ist das?", frage ich ihn und schaue Guk an, der mich ausdruckslos mustert.

"Jedes Kind, welches natürlich schon schreiben kann, darf bei seiner Ankunft im Waisenhaus einen Brief über seine Gefühle schreiben. Du denkst, dein Leben wäre chaotisch und schwer, aber das ist es nicht ansatzweise", erwidert er leise und verlässt den Raum.  

I fucking love you | Buch 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt