Kapitel 66

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Die Fahrt war lang und ereignislos. Izumi konnte sich am modernen Japan gar nicht sattsehen und stellte eifrig Fragen, die wir alle nur zu gern beantworteten. Ijichi versprach ihm sogar, ihm am nächsten Tag genau zu erklären, wie ein Auto funktionierte und als Izumi das hörte schaffte er es nicht, die Vorfreude aus seinen Augen zu verbannen. Mit der Zeit, wir waren sicher schon eine Stunde unterwegs, bogen wir schließlich in einen kleinen Wald ein. Es wurde rapide dunkler, nur vereinzelte Straßenlaternen beleuchteten die kleine Waldstraße vor uns. „Es ist schon spät." Satoru zückte sein Handy und sah auf den Bildschirm. „Aber Shoko wird für dich, Izumi, sicher noch Zeit haben." „Wer ist Shoko?" fragte Izumi neben mir und unterdrückte ein Gähnen. Mit jeder Minute, die verging, schien er wieder schwächer zu werden. Besorgt nahm ich seine bandagierte Hand, doch er winkte stillschweigend ab. „Frau Ieri ist im Besitz einer Umkehrtechnik." Erklärte Ijichi. Satoru ergriff den Rückspiegel und drehte ihn so, damit Izumi und ich ihn grinsen sehen konnten. „Sie flickt alle an der Akademie wieder zusammen und wird es auch bei dir tun, Izumi." Izumi nickte, seine Finger strichen über das dicke Pflaster in seinem Gesicht. „Das wäre schön, das ... wie heißt das gleich nochmal?" „Pflaster." Sagten Ijichi, ich und Satoru gleichzeitig, was Izumi lachen ließ. „Pflaster, ja. Das juckt schrecklich auf der Haut." Satoru nickte und Ijichi richtete den Rückspiegel wieder richtig aus. „Frau Ieri wird sich darum kümmern."

Das Auto bog auf den Vorplatz eines weitläufigen Geländes ein, das von allen Seiten durch Bäume vom Rest der Stadt abgeschottet wurde. Der Wind fing sich in den dicht belaubten Bäumen, deren Äste sich wie dicke Finger in den dunkeln Nachthimmel erhoben. Gruselig war das Ganze ja schon, also beeilte ich mich, den anderen zu folgen. Izumi lief etwas schwerfällig hinter uns her, also blieb ich doch stehen und wartete, bis er aufgeschlossen hatte. Er sah mit einem Mal sehr müde aus, seine Haut blass. „Alles okay?" er nickte bloß, aber sein Gesicht sprach Bände. „Das war jetzt alles nur etwas zu viel und anstrengend. Aber mach dir keine Sorgen." Mir keine Sorgen zu machen fiel mir schwer angesichts seines schlechter werdenden Zustandes und den Schmerzen, die er ganz offensichtlich hatte. Die Schmerzmittel schienen aufzuhören, zu wirken. Kurzerhand legte ich mir einen seiner Arme um die Schultern und stützte ihn, Satoru tat es mir auf Izumis anderer Seite gleich, als mein Freund ins Wanken geriet. „Izumi? Izumi!" mit einem Mal klappte Izumi in sich zusammen. „Ijichi! Sag Shoko Bescheid!" rief Satoru dem Fahrer zu, der sofort im Haus verschwand und nach Frau Ieri brüllte. Von Ijichis aufgeregten Schreien angelockt kam ein Junge aus dem Haus gelaufen. Seine dunklen Augen weiteten sich besorgt, als er uns sah. „Yuta! Pack mit an." Satoru nickte auf Izumi und Yuta rannte sofort zu uns herüber. „Natürlich!" Er kam an meine Seite und half uns, den bewusstlosen Izumi ins Haus zu tragen, wo unser Weg in einer Art Behandlungszimmer endete.

„Hier auf die Bahre. Jetzt." Eine brünette Frau stand im Zimmer, ihr weißer Kittel hing, genau wie die Zigarette in ihrem Mund, auf halb acht, als sie an die Bahre trat und eine Schere zückte. „Wo?" sie deutete mit der Schere auf mich. „Rücken, Hände, Gesicht. Aber der Rücken ist am schlimmsten. Man ... man hat ihn ausgepeitscht." Shoko nickte, zerschnitt kurzerhand Izumis Shirt und löste die dicken Verbände von seinem Rücken, kurz danach die Kompressen, die im Krankenhaus angebracht worden waren. Entsetzen flutete mich, als ich Izumis Rücken zum ersten Mal richtig sah. Der ganze Rücken war ein einziger blauer Fleck, allerlei Lila- und Rottöne schimmerten im Licht der knackenden Neonbeleuchtung. Kein Fleck Haut war mehr als Haut erkennbar, quer über seien Rücken zogen sich unzählige dicke Nähte, teils wurde auch mit Klammern gearbeitet, um die sehr breiten Striemen verschließen zu können. „Das ist schwer anzusehen." Yuta trat, weiß um die Nasenspitze geworden, zwischen mich und Satoru und betrachtete ebenfalls Izumis Rücken. Shoko reichte mir ein kleines Utensil. „Hiermit die Fäden auftrennen. Ich mach die Klammern raus." Sie deutete auf Satoru, Yuta und Ijichi. „Und ihr drei, ihr haltet ihn fest. Gut möglich, dass er wieder wach wird. Und die Schmerzen, die er haben wird, werden es ihm nicht erlauben, still zu liegen."

Kaum, dass Shoko und ich angefangen hatten, ging es los. Izumi wand sich unter den Griffen der drei Männer wie ein Fisch, der zu ersticken drohte. Seine Schmerzensschreie hallten von den weißen Wänden wider, echoten in meinen Ohren und trieben mir die Tränen in die Augen. Immer wieder verlor er das Bewusstsein, nur um wieder wach zu werden und damit alles von vorn beginnen zu lassen. Mit jedem Faden und jeder Klammer, die Shoko und ich lösten, klafften die Peitschenwunden wieder auf, rohes Fleisch schimmerte durch das warme Blut, das mir mehr und mehr über die Hände lief. „Mach weiter! Erst wenn alles raus ist, kann ich anfangen!" brüllte Shoko mir über Izumis Schmerzensschreie hinweg zu und trieb mich zur Eile an. „Da! Die letzte Klammer!" Shoko löste das letzte Metallstück aus Izumis Fleisch und warf sie achtlos zu den anderen in die jetzt blutverschmierte Nierenschale. Schon war ich um die Bahre herumgeeilt, ging in die Hocke und nahm Izumis Gesicht in die Hände. Seine Augen rollten in seinem Schädel zurück, er war in den 20 Minuten komplett nassgeschwitzt, vereinzelte Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Ich bin da, Izumi. Hörst du mich?" verzweifelt strich ich ihm Schweiß und Tränen aus dem Gesicht. „Ist okay. Gleich hört es auf, ja? Du musst nur noch ein bisschen durchhalten." Sanft strich ich ihm das Haar aus der Stirn, unsäglicher Schmerz trat in seine Augen, als er mich endlich richtig ansah. „Ich bin da. Hier bei dir. Es wird alles gut, das verspreche ich dir."

Je länger Shokos Technik an Izumis Rücken arbeitete, umso weicher wurden seine Gesichtszüge und er hörte auf, zu zittern. „Ist okay. Wird besser, nicht wahr?" Izumi nickte schwach und seufzte, als ich meine Hand an seine Wange legte und sanft darüberstrich. „Gleich ist es geschafft. Das machst du sehr gut." Izumi blinzelte etwas und schmunzelte dann doch tatsächlich. „Du ... du tust ja so, als wäre ..." ein Husten unterbrach ihn, „als wäre ich ein kleines Kind," sagte er erschöpft und lachte, als er meinen überrumpelten Gesichtsausdruck sah. „Du Idiot." Erleichtert blinzelte ich die Tränen in meinen Augen weg und legte meine Stirn an seine. Angenehme Stille füllte den Raum und Ijichi entschuldigte sich nach draußen, um Tee und Wasser zu holen. „Das wars." Shoko sah noch geräderter aus als eben noch, aber auch zufrieden. Erst jetzt fielen mir die dicken Tränensäcke unter ihren Augen auf und die dunklen Augenringe. „Kannst du dich hinsetzen?" Izumi nickte und setzte sich dann vorsichtig auf. „Die Narben werden bleiben, Zeitreisender." Sagte Shoko und deutete auf den Spiegel an der Wand hinter Izumi. Der verrenkte sich fast den Hals, als er über die Schulter spähte. „Die können bleiben. Solange ich wieder einsatzfähig bin, ist es mir egal."

Vorsichtig ging ich um die Bahre herum, sah mir seinen Rücken ebenfalls an und staunte nicht schlecht. Die verschiedenen Rot- und Lilatöne waren restlos verschwunden und die offen klaffenden Wunden waren glatten, wenn auch unförmigen, Narben gewichen. „Das ist unglaublich." Hauchte ich und strich vorsichtig eine der Narben entlang. „Wie fühlst du dich?" Izumi stand auf, lief einige Schritte und ließ die Schultern kreisen. „Es spannt, aber das wird vergehen." Shoko nickte zustimmend und lehnte sich an die Bahre. „Setz dich wieder, dann richte ich dein Gesicht und die Hände." Izumi tat, wie ihm geheißen. „Geht das hier zuerst?" er deutete auf sein Gesicht. „Das ...," er dachte kurz nach, „das Pflaster juckt ganz schrecklich." Shoko zog es vorsichtig herunter und schmunzelte. „Du bist allergisch gegen den Kleber. Aber das ist nichts Schlimmes." Izumi schloss die Augen und ließ Shoko die Fäden in seinem Gesicht entfernen. „Was ist allergisch?" fragte er in die Stille hinein. „Sowas wie eine Überempfindlichkeit. Wenn dein Körper bestimmte Stoffe nicht verträgt, dann will er sie loswerden. Und hier äußert sich das in Juckreiz und Rötungen." Shoko lächelte ihn an. „So verstanden?" Er nickte. Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich die Wunde in seinem Gesicht langsam schloss und nichts weiter zurückblieb als eine dünne Narbe. Shoko machte seine Hände im nächsten Atemzug mit und keine Stunde, nachdem wir hier angekommen waren, sah Izumi viel besser aus.

Vorsichtig stand er auf, betrachtete die Narben auf seinen Handrücken und Handflächen und staunte nicht schlecht, als er sein Gesicht im Spiegel entdeckte. Die Narbe war nach wie vor zu sehen und war durch Suka jetzt auch länger, verlief über die halbe Stirn, die Nase über die linke Wange. Aber sie war dünner und nicht mehr wulstig. Izumi starrte sich bestimmt drei Minuten lang selbst im Spiegel an, drehte sich dann um und verbeugte sich tief vor Shoko.

„Vielen Dank. Ich stehe tief in deiner Schuld."

Doch Shoko winkte ab und zündete sich eine Zigarette an. „Das ist mein Job. Dank mir nicht dafür."

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Ein Late Night Kapitel für euch!

Eure Erin xx

Ancient Love (Sukuna X MC)/FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt