Kapitel 126

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Ich hatte jeden Tag das Gefühl, in einem Schnellzug zu sitzen und das Leben durch eines seiner Fenster an mir vorbeirauschen zu sehen. Schemenhaft, verschwommen und unvollständig. Nicht beeinflussbar vom Inneren des Zuges aus. Ich quälte mich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde und von Minute zu Minute. Ich wusste nicht, wohin mit mir und ließ mich von meinen Gedanken immer wieder an dunkle Orte bringen, voll von all dem Schmerz und dem Leid, dass Muri wohl hatte durchleben müssen.

Hatte er es mitbekommen oder kam der Tod leise im Schlaf zu ihm und nahm ihn mit?

Hatte er leiden müssen? Hatte er lange leiden müssen?

Hatte er geweint und auf Knien um sein Leben gebettelt, bevor Kenjaku von seinem kleinen Körper Besitz ergriffen hatte?

...

Hatte er Frieden gefunden?

Immer öfter verlor ich mich in diesen Gedanken und egal, wie sehr ich sie auch drehte und wendete, ich fand keine Antwort. Nur diese tiefsitzende, brodelnde Wut, die sich immer weiter durch mein ganzes Sein fraß und meinen Geist vernebelte. Es war, als hätte ich die Kontrolle über das Leben verloren und wann immer ich Sukuna ansah, sah ich ihm an, dass es ihm ebenso ging. Ich sah ihn oft in Muris Zimmer sitzen, mit dessen Kuscheldrachen in den Händen starrte er die unvollständige Blätterwand an. Manchmal stundenlang, ohne sich zu bewegen. In diesen Momenten hätte ich viel dafür gegeben, seine Gedanken lesen zu können. Auch wenn ich wusste, dass Sukunas Geist oft ein sehr dunkler Ort der Leere und des Leides war, an dem man schnell verloren gehen konnte. So wie er es so oft tat, verloren ging in all dem, was er war. Aber das wäre es mir wert gewesen. Das wäre er mir wert gewesen, jedes Mal aufs Neue. Aber ich konnte nicht in seinen Kopf sehen, konnte nicht von innen gegen all das ankämpfen, dass ihn quälte. Also brühte ich stattdessen jedes Mal, wenn ich ihn in Muris Zimmer sitzen sah, seinen Lieblingstee auf, nahm eine dicke Decke mit und setzte mich zu ihm. Und jedes Mal zog er mich an sich, hüllte uns in die Decke und ließ mich stumm wissen, dass er es schätzte, dass ich da war.

Das ich ihm so half, aus der Dunkelheit seiner Gedanken zu finden.

In diesen zwei Wochen spielte Kenjaku mit unserer Trauer, tauchte immer wieder dort auf, wo einer von uns war, um denjenigen mit dem Anblick des toten Muri zu quälen, der so nah und doch so unendlich fern war.

Akara war die Erste. Sie kam völlig aufgelöst weinend und derart verstört vom Markt zurück, auf dem sie Muri mit einigen Kindern hatte spielen sehen. Als er ihr grinsend zugewunken hatte, hatte sie alle ihre Körbe fallen lassen und war zurück zur Villa gelaufen, so schnell sie konnte.

Kiyo war der Zweite. Er sah Muri auf der Pfirischplantage Blätter sammeln. „Wusstest du, Kiyoshi, dass das Beißen in einen noch nicht ganz reifen Pfirsich ebenso klingt wie das Knacken der Knochen, wenn man einen Schädel aufbricht?" Muri musste sich schmunzelnd an die lange Narbe auf der Stirn getippt und den verstörten Kiyo auf der Plantage zurückgelassen haben. Der junge Gärtner konnte seitdem keinen Pfirsich mehr sehen, ohne weiß zu werden so wie Izumi, wenn er Brot roch.

Yarana sah Muri im Garten am Teich bei seinen Kois sitzen und sie mit Brot füttern. Er hatte sie erst gar nicht bemerkt, erst, als sie in seinem Rücken weinend auf das Pflaster gefallen war, hatte Muri sich umgedreht. „Was ist los, alte Frau? Sag bloß, du freust dich nicht, mich zu sehen."

Ab diesem Tag hatte Sukuna uns alle ausgelagert und im Palast bei Fuji untergebracht. Dem einzigen Gebäude, dessen Barriere nach wie vor unbeschädigt war. Aber die Barriere des Palastes war auch vor Jahrhunderten gezogen worden, von mächtigen Jujuzisten, die nicht nur den Palast, sondern auch den Zutritt zu dem Gefängnis zwischen den Welten für Flüche unmöglich machen wollten. Die Barriere um die Villa dagegen war von einem einzelnen, wenn auch erfahrenen Jujuzisten mit einer Barrierentechnik gezogen worden, den ich im Palast ausfindig machen konnte. Er erzählte mir, dass es zwar grundsätzlich möglich wäre, eine Barriere zu errichten, die einzelne Menschen aussperrte. Aber bei jemandem, der seinen Körper beliebig verändern konnte, war das nicht möglich. Wie auch, wenn er bloß den Körper wechseln musste, um die Barriere so zu umgehen? Also hatte er die Villa nur in einen Schutzmantel hüllen können, der Flüche aussperrte. Mehr war nicht möglich gewesen.

Ancient Love (Sukuna X MC)/FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt