Schwer atmend richtete Izumi sich auf, schloss die Augen und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Kinn. Erschrocken schlug ich die Hände vor den Mund, als sich auf seiner nackten Brust dünne Schnitte öffneten. „Izumi!" der mittlerweile zu Boden gesunkene Staub wirbelte unter meinen hastigen Schritten wieder auf, als ich auf ihn zustolperte und meine Hände auf die Schnitte drückte, um die Blutung zu stoppen. Doch Izumi lachte bloß leise über mir und nahm meine Hände wieder herunter. „Die sind nicht tief, keine Sorge." Als ich den Blick hob, schimmerten seine Augen im hellen Sonnenlicht und wurden warm, kaum, dass ich meine Arme um ihn geworfen hatte. Seine Umarmung war weich und tröstend, immer wieder strich er mir sanft über den Rücken. „Ist okay, hmm? Mach dir keine Sorgen."
Mein Körper verfiel in ein erleichtertes Zittern, immer wieder tauchte vor meinem geistigen Auge dieses Bild von Izumi auf. Wie er regungslos den fallenden Trümmern entgegensah, sich nicht rührte. Diese Angst in seinen Augen, diese unbändige Angst.
Todesangst. Wie in der Mine.
„Wie hast du das gemacht?" Yuji und Kurose hatten sich genähert und auf Yujis Frage hin löste sich Izumi von mir und kratzte sich verlegen im Nacken. „Mit meiner Fluchtechnik. Gerade noch rechtzeitig." Er amtete einmal tief durch, setzte sich auf die Motorhaube von einem der ausgebrannten Autos und nahm Kurose dankbar den Stofffetzen ab, um sich damit das Blut von der Brust zu wischen. „Verschleierung heißt sie." Sagte er dann schließlich und deutete auf mich. „Mit ihr habe ich uns damals aus Kyoto gebracht, durch die Fluchherde hindurch." Jetzt fiel es mir wieder ein. Diese weißen Schlieren, die Izumi vorhin umgeben hatten. Sie hatten ihn und mich damals vor den Flüchen versteckt, uns ... aufgelöst? Immerhin waren die Flüche einfach durch uns hindurchgelaufen, ohne uns zu bemerken. Kurose dachte kurz nach, man konnte beobachten, wie der Groschen schließlich bei ihm fiel. „Spannend. Davon habe ich schon gehört. Das heißt, du kannst dich und andere unsichtbar machen. Und was man nicht sehen kann, ist natürlich auch physisch nicht da. Stimmts?" Izumi nickte. „So haben die Trümmer mich nicht erschlagen können, weil ich einfach keinen Körper hatte." Er deutete auf seine Brust. „Ich kann auch im Zwischenstadium bleiben, zwischen sichtbar und unsichtbar." Weiße Schlieren umwaberten Izumis Körper, seine Konturen wurden wieder unscharf, aber unsichtbar wurde er nicht. „Das sieht dann so aus. Man kann mich zwar nicht treffen in dem Moment, aber die Verletzungen kommen, wenn auch stark abgeschwächt, zurück, sobald ich wieder vollständig sichtbar bin." Seine Finger fuhren über die Schnitte auf seiner Brust. „Das hier sind die Überbleibsel Karatsus Beilhiebe, als er vorhin auf mich eingeschlagen hat."
„Und was sind die Nachteile?" Yuji war neugierig nähergekommen und inspizierte die Schlieren, die sich sanft an Izumis Körper schmiegten, als er die verschwommene Hand hob. „Was nicht existent ist, kann anderen auch nicht schaden." Er streckte die Hand aus und fuhr damit durch Yujis Brust hindurch. Der ganze Vorgang erinnerte an ein Hologramm. Zumindest sah Izumi aus wie eines. „Das heißt, in diesem Zustand als auch in dem, in dem man mich gar nicht mehr sehen kann, kann ich niemanden angreifen. Um das zu tun, muss ich vollständig da sein." Izumis Konturen wurden wieder scharf und als ich die Hand hob und ihm das Haar aus der Stirn strich, konnte ich ihn wieder spüren. „Und ja, ich kann andere ebenfalls verschleiern. Ganz und zum Teil. Aber je mehr Leute es sind, umso kürzer kann ich es."
Kurose und Yuji sahen beide gleichermaßen beeindruckt aus, sie schienen Izumi mit ganz neuen Augen zu sehen. „Und wie es aussieht hast du deine Technik perfektioniert. Meinen Respekt." Kurose zog seinen imaginären Hut und grinste breit. „Eine beeindruckende Technik, keine Frage." Izumi winkte ab und nickte in Richtung des Trümmerberges. „Lasst uns lieber weitergehen. Es dämmert und ich möchte nicht hier auf freiem Feld übernachten."
Yuji lief voraus und sah ich eifrig nach guten Unterschlupfmöglichkeiten um, er raste von einer Straßenseite zur anderen und inspizierte jeden einzelnen Laden. Aber keiner schien dem Jungen für unsere Sicherheit gut genug zu sein. „Kurose! Jetzt hilf mir doch mal!" rief er mit einem Mal und Kurose entschuldigte sich mit einem schiefen Grinsen nach vorne und half suchen. Stumm lief ich eine Weile neben Izumi her und sah dabei zu, wie es außerhalb des Schleiers und damit natürlich auch hier drinnen bei uns, immer dunkler wurde. „Willst du darüber sprechen? Über den Einsturz in der Mine." fragte ich Izumi schließlich und blieb einige Schritte hinter ihm stehen. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, seine Schritte verstummten und in der Dämmerung konnte ich sehen, wie er lapidar mit den Schultern zuckte. „Es gibt nichts zu besprechen oder breitzuquatschen, Elea. Es ist in der Vergangenheit und da gehört es auch hin." Sagte er und lief weiter. Schnell hatte ich zu ihm aufgeschlossen und hielt ihn am Arm zurück. „Dafür, dass es in der Vergangenheit liegt, war es aber vorhin sehr präsent. Du wärst fast gestorben deswegen." Meine Stimme war leiser geworden, verzweifelter. „Ich weiß, du hast es mir schon erzählt. Aber ich seh doch, dass es dich auffrisst mit Haut und Haar." Izumi machte sich los, seine bernsteinfarbenen Augen wurden kühl. „Ich weiß, du sorgst dich bloß. Und das weiß ich zu schätzen, wirklich. Nur sag mir nicht, wie ich mit meiner Vergangenheit umzugehen habe. Das ist ganz allein meine Angelegenheit." Sagte er und ließ mich in der Dämmerung stehen. Kurz hatte ich überlegt, ihm nachzulaufen und ihn zu überreden, dazu zu bringen, mit mir zu sprechen. Aber man konnte niemanden dazu zwingen, über das zu reden, was einen heimsuchte.
Man konnte seine Hilfe anbieten auf dem Weg.
Aber seinen Dämonen konnte man sich am Ende nur allein stellen.
Stattdessen durchstöberte ich die demolierten Läden auf der Suche nach einem Pullover. Je dunkler es wurde, umso kälter wurde es hier in dem Schleier und ich wollte nicht, dass Izumi in der kommenden Nacht fror. Aus den Verkaufsräumen war ausnahmslos nichts mehr zu gebrauchen, aber als ich das Lager betrat, fand ich in einem der Kartons einen dicken weißen Pullover. Die Farbe war angesichts unserer Umgebung nicht die beste Wahl und zu groß war er auch. Aber er war alles, was ich hier finden konnte, also legte ich ihn mir fein säuberlich über den Arm und verließ den Laden. Auf der Straße wartete Kurose auf mich, der mich in einen Hinterhof führte und dort durch eine Türe in eine kleine Wohnung. Auch hier hatte jemand gewütet, aber das war zweitrangig. Yuji hatte allerlei Kissen und Decken zusammengesucht und naschte bereits von dem Proviant, den wir eingepackt hatten. Izumi verließ die Wohnung sofort wieder mit den Worten, dass er als Erster aufpassen würde und so kam es, dass schon bald das stete Schnarchen von Yuji das Zimmer füllte. Auch Kurose war schnell eingeschlafen und so saß ich allein auf dem fleckigen Sofa und überlegte, was ich tun sollte. Schlafen konnte ich nicht, obwohl ich eine gewisse Müdigkeit verspürte.
Kalter Wind strich mir über das Gesicht, als ich aus der Türe trat und mich umsah. Izumi saß auf dem zerstörten Hochhaus, das unser Versteck von der Straße abschirmte und sah in die dunkle Nacht hinaus. Mit der Dose Ravioli und dem Pullover in der Hand war es gar nicht so leicht, raufzuklettern, aber nach einer Weile hatte ich es geschafft und ließ mich neben Izumi nieder. „Hier." Ich reichte ihm den Pullover und sah ein kleines Lächeln, als er ihn mir abnahm und anzog. Die Gänsehaut auf seiner Haut verschwand langsam. „Und das hier. Der Herd geht nicht, also sind es kalte Ravioli aus der Dose. Wir hätten Yuji nicht die Vorräte überlassen sollen. Kein Wunder das wir hauptsächlich Dosen dabeihaben." Izumi lachte und fischte nickend die Nudeln aus der Dose. „Da hast du Recht." Stille machte sich breit. „Das vorhin ... ich wollte dich nicht drängen, Izumi. Das steht mir nicht zu und dafür möchte ich mich entschuldigen." Izumi sah mich eine Weile an und legte dann lächelnd den Kopf schief. „Ist schon okay. Du hast es nur gut gemeint, dass weiß ich doch." Erleichtert angelte ich ebenfalls eine kalte Ravioli aus der Dose. Izumi zog amüsiert eine Augenbraue in die Höhe. „Ist Dosenessen denn gut für Babys?" ich gab ihm grinsend einen Knuff. „Nahrhafter wird's heute nicht mehr. Weder für mich noch für das Baby." Sanft strich ich über meinen Bauch und seufzte. „Hoffentlich ist alles gut. Bei dem vielen Stress ..." Izumi legte einen Arm um mich. „Mach dir da mal keine Gedanken. Meine Mutter muss in dem Bordell auch sehr gestresst gewesen sein. Und jetzt sieh mich an. Ich bin ausgezeichnet geraten, wenn ich das mal so sagen darf." Unser leises Lachen vermischte sich mit dem kühlen Wind und wurde davongetragen. „Was denkst du, was morgen passiert?" Er schwieg auf meine Frage hin eine Weile, seine Augen scannten unermüdlich die Umgebung. „Angesichts der Umstände ist es schwer, hier eine Prognose zu stellen. Aber wenn ich es müsste, dann würde ich sagen, dass wir uns darauf konzentrieren, am Leben zu bleiben. Alles andere ist jetzt erstmal zweitrangig." Sagte er dann und stellte die Dose ab. „Du solltest schlafen, Elea. Und wenn du das unten bei Yujis Schnarchen nicht kannst, was ich verstehe, dann tu es hier." Er zog eine Decke aus seinem Rucksack und legte sie mir um die Schultern.
„Ich pass auf dich auf."
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Ich hoffe, dass ich Izumis Technik nicht zu kompliziert beschrieben habe und es klar geworden ist, wie sie funktioniert! Ich wollte mir gern etwas Komplexes für ihn ausdenken und ich glaube, dass mir das geglückt ist :D
Eure Erin xx
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Ancient Love (Sukuna X MC)/FanFiction
Fanfiction18+ Holt die Vergangenheit dich ein? Oder kommst du ihr zuvor? Elea war schon immer eine Weltenbummlerin. Nie hatte sie etwas lange an einem Ort gehalten. Immer hatte es sie weitergezogen, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Bis ihr Weg sie schli...