Kapitel 1

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Er setzte einen Fuß vor den anderen.

Es war ruhig. Die Welt um ihn herum noch im Halbschlaf, nur spärlich erwacht. Allein das Geräusch seiner Schuhe, wenn sie den dreckigen Asphalt berührten, war zu hören. Aus der Ferne drang das leise Brummen von Automotoren an sein Ohr. Ein Vogel zwitscherte aufgeregt und kündigte den neuen Tag an.

Die Morgendämmerung hüllte alles um ihn herum in einen grauen Schleier. Egal ob Häuser, Autos oder Bäume. Alles schien die gleiche Farbe zu haben. Er lächelte. In der Nacht sind alle Katzen grau.

Die Straßen, die er durchquerte, waren leer. Nur hier und da sah man vereinzelte Gestalten, die entweder von der Arbeit kamen oder dorthin unterwegs waren. Mit gesenkten Köpfen eilten sie ihrem Ziel entgegen. Keiner von ihnen beachtete ihn. So war das in der Großstadt. Man war da und war es gleichzeitig doch nicht.

Die Trainingsjacke schütze ihn vor der kühlen Luft. Nebel waberte jedes Mal vor seinem Gesicht auf, wenn er ausatmete. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne ihre volle Stärke zur Schau stellte und die Temperaturen auf über 30 °C ansteigen ließe.

Unbeirrt schritt er weiter, bahnte sich seinen Weg durch die Straßen Tokios. Seine Gedanken hatten die Hauptstadt bereits verlassen und waren in Miyagi angekommen.

Karasuno.

Die gefallenen Gegner.

Die Krähen, die nicht mehr fliegen können.

Heute würde er endlich die Chance bekommen, sich selbst ein Bild von der Mannschaft zu machen, die einst zu den Eliteteams des Oberschul-Volleyballs gehörte.

Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Heute hielt niemand mehr ehrfürchtig die Luft an, wenn der Name Karasuno fiel. Im Gegenteil. Die Leute verdrehten die Augen und winkten verächtlich ab. Niemand erwartete von dieser Oberschule noch Glanzleistungen irgendeiner Art.

Es muss für die Spieler äußerst deprimierend sein, eine Schule repräsentieren zu müssen, der keiner mehr Beachtung schenkt. Der Erfolg der einstigen Mannschaft hat sich wie ein Schatten auf die nachfolgenden Generationen gelegt. Nur mit enormer Willensstärke, Mut und spielerischem Geschick wird es Karasuno schaffen, die Dunkelheit hinter sich zu lassen und wieder hinaus ins Licht zu treten.

Den ersten Schritt dafür haben sie bereits getan.

Wie ein Wahnsinniger hatte der Clubbetreuer des Karasuno-Volleyballteams ihren Trainer mit Telefonanrufen und Bitten um ein Übungsspiel terrorisiert. Letztendlich hatte Herr Nekomata dem Wunsch nachgegeben. Die Hoffnung, die legendäre Schlacht auf dem Müllplatz zwischen den Krähen und den Katzen doch noch wahr werden zu lassen, spielte bei der Entscheidung eine besonders große Rolle.

So kam es, dass er eben das Gelände der Nekoma-Oberschule betrat und auf den Bus zusteuerte, der ihn und die Mannschaft nach Miyagi bringen würde. Er konnte es kaum erwarten, dem Volleyballteam der Karasuno gegenüberzustehen.

Mit seiner Position als Mannschaftskapitän gingen für Kuroo Tetsurou gewisse Sonderpflichten einher. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass er der erste Spieler vor Ort war. Es war so von ihm gewollt. Mit schnellen Schritten näherte er sich den zwei Männern, die vor dem Fahrzeug auf ihn warteten.

Yasufumi Nekomata und Manabu Naoi trugen beide einen roten Trainingsanzug, die Erkennungsfarben der Nekoma-Oberschule. Sie lächelten dem Schwarzhaarigen freundlich zu, als dieser auf sie zukam.

„Guten Morgen, Coach Nekomata, Coach Naoi", sagte Tetsurou und verbeugte sich leicht vor den Älteren, die seine Begrüßung höflich erwiderten.

Kuroo schlüpfte in den Bus und verstaute seine Tasche in der Gepäckablage, danach trat er wieder heraus und stellte sich zu den beiden Trainern.

„Kennen Sie einen der Spieler von Karasuno?", fragte Kuroo an die beiden Herren gewandt.

Herr Nekomata schüttelte den Kopf. Naoi allerdings nickte und erklärte den zwei Anwesenden, dass er von den Schülern zwar niemanden kenne, doch der Coach ihm sehr wohl bekannt sei.

„Ukai und ich sind etwa gleich alt. Wir haben beide während unserer Schulzeit Volleyball gespielt. Ich für Nekoma, er für Karasuno. Zu meiner Zeit fanden zwischen den beiden Schulen noch zahlreiche Trainingsspiele statt. Allerdings gehörten wir beide nicht zur Startaufstellung, weshalb wir stets von der Ersatzbank zusehen mussten. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, uns außerhalb des Spielfeldes zu duellieren. Bin gespannt, was aus dem alten Haudegen geworden ist", sagte Naoi und grinste gedankenverloren.

„Seit wann ist Ukai Trainer bei Karasuno?", fragte Kuroo interessiert.

„Erst seit ein paar Wochen. Wir sollten also noch nicht viel von Karasuno erwarten", antwortete Nekomata trocken.

Das waren äußerst ernüchternde Aussichten, dachte sich der Kapitän, behielt diesen Gedanken jedoch lieber für sich. Sein Blick wanderte in die Ferne und er konnte die ersten Spieler in roten Trainingsanzügen entdecken, die sich ihren Weg zu dem genannten Treffpunkt bahnten. Er begrüßte einen nach dem anderen und bat sie, sich schon mal in den Bus zu setzen. Als auch das letzte Teammitglied im Wagen verschwand, nickte er den beiden Trainern zu und stieg ebenfalls ein, um seinen Platz einzunehmen.

Kurze Zeit später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Es war still. Noch. Noch waren Lev und Yamamoto müde, sodass sie die Busfahrt für ein Nickerchen nutzten. Doch das würde sich ändern, sobald sie in Miyagi ankämen und die beiden ausgeschlafen waren.

Kuroo seufzte leise und ließ sich in den bequemen Sitz sinken. Noch war es kalt in dem Bus, doch die Klimaanlage surrte bereits fleißig vor sich hin und würde alsbald eine angenehme Wärme im Inneren erzeugen, die ihn einlullen würde. Er schloss die Augen. Die Busfahrt würde er nutzen, um sich mental auf die bevorstehende Begegnung und das Trainingsspiel vorzubereiten. Außerdem musste er seine Nerven stählen, da er nie wusste, wie weit ihre zwei Chaoten seine Geduld ausreizen würden. Vermutlich kam er um ein paar warnende Worte, bevor sie die Sporthalle der Karasuno-Oberschule betreten würden, nicht umher.

Der Kapitän lehnte seinen Kopf gegen die kalte Glasscheibe und spürte das Vibrieren des Motors. Langsam öffnete er seine Augen und betrachtete die an ihm vorbeiziehenden Häuserzeilen. Obwohl es noch immer leicht schummrig war, war die Anzahl der Personen, die sich durch die Straßen der Stadt bewegten, deutlich angestiegen. Jeder in seine eigenen Gedanken, seine eigene Welt versunken, eilten sie von einem Ort zum nächsten. Wie Ameisen. Er lächelte.

Nach einigen Minuten hatten sie den Stadtrand erreicht. Kurz darauf verließen sie das dichte Siedlungsgebiet vollständig. Kuroos Augen schweiften nun über weite Felder und in der Ferne aufragende Baumgruppen. Die Sonne hatte sich aus ihrer Versenkung gekämpft und tauchte die Landschaft in einen goldenen Schein. Der Anblick bot eine willkommene Abwechslung zu der beengten und weniger grünen Stadt. Eine innere Ruhe hatte sich in ihm ausgebreitet. Es war ihm egal, wie lange sie noch unterwegs sein würden. Er genoss die Fahrt und die Stille.

Rivalität mit Folgen [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt