Das erste das ich danach wieder wahrnehme ist die Helle. Sie stört die endlose Dunkelheit, welche zuvor in meinem Kopf herrschte, sodass ich beinahe gezwungen bin, meine Augen zu öffnen. Verschwommen nehme ich nur undefinierbare Gestalten um mich herum wahr und muss ein paar Mal blinzeln, bevor ich meine Augen vollends aufschlagen kann. Mein Blick fällt zuerst auf die sterile, weiße Decke des Zimmers und wie nah sie mir erscheint.
"Er ist aufgewacht", ertönt auf einmal eine aufgebrachte Stimme neben mir. Die Worte fühlen sich wie ein Schlag auf den Kopf an und ich bin gewollt, meine Augen vor Erschöpfung direkt wieder zu schließen.
"Hallo, können Sie mich hören? Verstehen Sie mich?"
Immer noch unscharf gestikuliert eine maskierte Person mir vor dem Gesicht herum. Ich versuche zu nicken, doch jede Bewegung ist gerade die größte Anstrengung. Stattdessen gebe ich nur einen undefinierbaren Laut von mir und vernehme kurz darauf ein erleichterndes Aufatmen. Das darauffolgende aufgebrachte Treiben ist mir schon zu viel und nur schwer kann ich dem folgen, was um mich herum geschieht. Allerhand Fragen rieseln auf mich ein und meine Werte werden stetig im Auge behalten. Wie ich mich fühle oder ob ich bereits sprechen könne. Fast in Trance gebe ich mein Bestes all dem nachzukommen und erst als der Fragenhagel abebbt fühle ich mich in der Lage, die Situation zu realisieren. Die Quelle der bereits angesprochenen Helligkeit und somit auch meinem Erwachen lächelt mich fröhlich durch das große Fenster zu meiner Linken an. Als hätte das Wetter nicht den verfrühten Untergang der Welt angesagt, strahlt die Sonne so frivol wie sonst nicht vom Himmel. Vage erinnere ich mich an die Szenerie hinter dem Fenster, allerdings mag mir nicht einfallen, wo ich sei zuordnen soll. Viel Zeit zum Rätseln bleibt mir jedoch nicht, da just in dem Moment die Tür des Zimmers aufspringt und meine sehr adrenalingeladene Mutter hineinstürmt.
"Niklas, du weißt ja gar nicht, was für ein Stein mir vom Herzen fällt", begrüßt sie mich und schließt sofort ihre Arme um mich, was jedoch einige empörte Ausrufe von den weiteren anwesenden Personen mit sich bringt. Noch bin ich zu geschwächt, um ihre Liebkosung auch nur ansatzweise zu erwidern.
"Ich bin so froh, dass du wach bist", redet sie weiter auf mich ein, streichelt meine Wange sachte und in nächsten Moment kullert auch bereits die erste Träne aus ihrem Auge. Mehr als sie nur reglos anstarren gelingt mir auch bei der nächsten Träne nicht und sofort merke ich, wie mir wieder Schwarz wird vor Augen.Das nächste Mal werde ich von lauten Stimmen geweckt. Erneut wird ein riesen Aufstand um mich herum veranstaltet. Repetitiv lasse ich das gleiche Fragenmuster über mich ergehen und fühle mich bereits etwas besser als zuvor. Dennoch sorgt das Fachchinesisch der, wie sich herausstellt, Schwestern und des Arztes für mehr Verwirrung als Klarheit und ich schiebe den Grund, weshalb ich nichts davon verinnerlichen vermag auf meinen noch leicht vernebelten Zustand. Stattdessen hege ich regen Augenkontakt mit meiner Mutter, welche schweigend auf einem Stuhl in der Ecke mir gegenüber sitzt und sich ständig neue Tränen mit einem Taschentuch wegwischen muss. Ihr anhaltendes Lächeln ist beinahe ansteckend und erst als wir nur noch zu zweit im Zimmer sind kommt sie mit ihrem Stuhl an mein Bett.
"Wie fühlst du dich?", fragt sie sanft und streichelt mir dieses Mal über meine zerzausten Haare. Fast schon genervt lasse ich laut Luft aus meiner Lunge entweichen und sinke ein wenig mehr in das bereits abgelegene Krankenhauskissen.
"Schwach", antworte ich knapp und merke, wie meine Stimme direkt wieder bricht. Das Lächeln ist noch immer zu sehen auf den Lippen meiner Mutter, allerdings merkt man, dass neben der Freude auch ziemlich viel Sorge im Raum steht. Die Sonne steht mittlerweile tief am Himmel und färbt ihn in ein angenehmes Orange. Wie spät es wohl gerade ist? Zuerst denke ich darüber nach meine Mutter zu fragen, allerdings ist ihr einfühlsames Streicheln meines Kopfes schon fast hypnotisierend und es wäre zu schade diesen Moment zu stören.
"Yannick und Alex haben sich nach dir erkundigt. Ich habe ihnen gesagt, dass du noch nicht ganz fit bist und erstmal Ruhe benötigtst, ich hoffe das war okay", setzt sie mich sanft in Kenntniss und geht am Ende des Satzes leicht mit der Stimme hoch, als wäre sie sich doch nicht so sicher mit dem, wie sie meine Freunde abgewimmelt hat. Soweit es mir möglich ist, nicke ich ebenso sanft und versuche ein aufmunterndes Lächeln auf meine Lippen zu bringen. Danach verfallen wir wieder in Schweigen, wobei ich eher davon ausgehe, dass sie mir nicht noch unnötigen Stress mir Fragen oder Reden aufbürgen möchte. Ich danke ihr schweigend dafür und als die Sonne bereits am Horizont verschwunden ist und eine Schwester mir das Essen gebracht hat fühle ich mich so ruhig wie schon lange nicht mehr. Zu wissen, dass meine Mutter an meiner Seite wacht, mir ihre Anwesenheit schenkt, konnte ich noch nie so wertschätzen wie jetzt gerade. So ganz kann ich mich auch gar nicht mehr daran erinnern, ob ich durchgehend bei Bewusstsein war, aber jedes Mal wenn ich die Augen öffnete, saß meine Mutter neben mir, hielt meine Hand oder sah andächtig in die Weite. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihr jemals gesagt habe, wie dankbar ich ihr eigentlich für alles bin. Dass sie ihr Leben für mich umgekrempelt hat, wie sie ihre Freizeit für mich geopfert hat, wie sie mich über ihr Glück stellt. Dieses Mal bin ich es, der ihre Hand ergreift und sie leicht drückt. Verwundert treffen sich unsere Blicke.
"Danke", beginne ich mit trockenem Mund und muss mich räuspern, "für alles einfach."
Diese Worte genügen um ihr Tränen in die Augen zu treiben und sie drückt meine Hand mindestens doppelt so fest zurück, natürlich immer noch darauf bedacht mir nicht zu viel aufzubürgen. Sie nickt mir nur weinend zu. Vielleicht weiß sie nicht, was sie sagen soll, vielleicht hat es ihr auch die Sprache verschlagen. Doch ich finde es schön, wie wir so kommunizieren. Und vermutlich wusste sie bereits längst, wie sehr ich sie schätze. Ihr Händedruck lässt nach und erst jetzt bemerke ich, wie ihre Augen etwas suchen, wie sie mich unsicher mustern, als wäre sie sich nicht ganz sicher, als würde sie es hinterfragen wollen.
"Niklas", beginnt sie schlussendlich bedacht. Ihre Stimme bebt ein wenig, "du bist alles für mich und ich liebe dich. Aber genau deswegen schmerzt es auch so sehr, wenn ich nicht weiß, was bei dir los ist."
Ihr Mund bewegt sich zum Weiterreden, doch sie bricht ab, bevor ein weiteres Wort über ihre Lippen gelangen kann. Verstohlen dreht sie sich weg und ich weiß ganz genau, was sie damit meint. Es ist schlimmer als jedes Todesurteil, schlimmer als jeder Messerstich und schlimmer als all die Enttäuschungen, welche ich jemals erleben musste. Es ist eine ganz andere Art von Schmerz, welcher sich jetzt schlagartig in meinem Körper ausbreitet und mein Herz zusammenziehen lässt. Die Enttäuschung, das Wissen, dass ich es nicht wertschätzen kann, dass ich meiner Mutter nicht einmal ansatzweise zurückgeben kann, was sie mir gibt. Das Vertrauen und die Zeit, alles, was sie mehr als verdient hätte.
"Ich möchte dir doch nur helfen, für dich da sein, egal wie. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dich unterstützen kann. Wenn ich nur daran denke, was hätte passieren können...", schüttet mir meine Mutter ihr Herz aus, das Gesicht mit Tränen überströmt, wodurch ihre Stimme noch brüchiger wirkt als sie vermutlich ist. Und ich liege nur da und kann gar nichts tun außer sie weiter anstarren, mich kleiner fühlen als je zuvor und zusehen, wie meine Mutter vor mir weint. Wegen mir. Soweit hätte es von Beginn an nie kommen dürfen. Allerding weiß ich ja genauso wenig, wie ich meine Mutter an meinem Leben teilhaben lassen kann. Ich möchte sie doch genauso wenig damit belasten. Welche Mutter möchte schon hören, wie schlecht es dem Kind geht, wie wenig man Lust auf das Leben hat und wie viel Schmerz man durch das Verhalten anderer erfährt. Vielleicht ist es mir aber auch nur peinlich, es lässt mich schwach wirken. Tatsächlich habe ich auf die ganze Thematik keine Antwort, keine Erklärung oder eine Ahnung, weshalb die Dinge so kamen, wie sie kamen. Noch immer liegen unsere Hände ineinander.
"Ich weiß", bestätige ich nur und wende den Blick dann direkt auf ihre Hand, welche ich nun wieder mit intensiverem Druck festhalte. Auch meine Mutter drückt wieder stärker zu, unsere Blicke treffen sich kurz und sie versucht trotz der verquollenen Augen mir zuzulächeln.
"Was hast du zu der Zeit überhaupt draußen gesucht?", fragt sie schlussendlich nach ein paar Momenten Stille nach. Ich weiß natürlich worauf sie anspielt und angestrengt versuche ich mich daran zu erinnern. Da ist der starke Regen, die Scheinwerfer, das Auto. Doch was wollte ich da? Alles drumherum ist verschwommen, als hätte jemand meine Gedanken gelöscht. Doch ich möchte meiner Mutter eine wirkliche Antwort geben. Umso angestrengter versuche ich den Abend revue passieren zu lassen. Doch da ist nichts. Ernüchternd schüttele ich leicht den Kopf. Das Nachdenken ermüdet meine so bemessenen Kraftreserven zu sehr.
"Ich weiß es nicht", flüstere ich fast zu undeutlich und starre weiter angestrengt in die Leere. Meine Mutter nickt verständlich, dabei sagt ihr Blick viel mehr aus. Und für mich fühlt es sich erneut so an, als hätte ich sie enttäuscht, als würde ich ihr etwas verschweigen wollen.
"Hat es was mit Noah zu tun?", fragt sie schlussendlich doch vorsichtig nach, nachdem ich erneut in Gedanken versunken bin. Verständnislos blicke ich zu ihr auf. In ihrem Gesicht steht immer noch so vieles geschrieben, dass ich gar nicht ausmachen kann, was genau sie gerade empfindet, auf welche Antwort sie hofft oder wie sie sich fühlt.
"Mit wem?"
Nun ist auch der Blick meiner Mutter verständnislos. Ihre Gesichtszüge verwandeln sich auf einen Schlag zu einem großen Fragezeichen. Erneut denke ich angestrengt nach. Doch der Name sagt mir tatsächlich nichts. Langsam fängt meine Mutter an zu zittern und abermals kann ich nicht beurteilen, ob das ein schlechtes oder gutes Zeichen ist.
"Dein Klassenkamerade", versucht sie mir auf die Sprünge zu helfen, das Lächeln auf ihren Lippen mehr als gespielt. In Gedanken gehe ich all meine Klassenkameraden durch. Zu jedem Gesicht kann ich sicher den Namen zuordnen. Aber Noah? Da fehlt sowohl der Name als auch das Gesicht. Erneut muss ich leider mit dem Kopf schütteln. Die Miene meiner Mutter wird weicher, sachte tätschelt sie mir die Hand. Doch in ihren Augen scheint etwas zu glitzern. Ich kann nicht deuten was es aussagt und noch bevor ich nachfragen kann holt sie ein Buch aus ihrer Tasche und legt es auf den Tisch neben mein Bett. Das Leuchten des Mondes steht groß auf dem sonst leeren Cover. Verwirrt suche ich nach Antworten in dem Geischt meiner Mutter, doch ihre Züge scheinen sich entspannt zu haben. Und irgendetwas sagt mir, dass sie mir gerade die Antwort auf viele unserer gemeinsamen Fragen gegeben hat.
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Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)
RandomNiklas glaubt er hat den Verstand verloren, als er sich immer mehr mit dem fiktiven Hauptdarsteller eines Buches vergleichen kann, doch was genau hat der ruhige Noah in seiner Klasse plötzlich mit ihm und weshalb bekommt er jedes Mal ein Déjà-vu, we...