Den ganzen Morgen über mache ich mir Gedanken über die Geschichte, über die Meinungen der anderen und darüber, wie sie wohl jetzt von mir denken. Ich fühle mich unwohl in meinem Körper und muss mich die ganze Zeit kratzen. Die Ungewissheit macht mich mal wieder verrückt und ich wünsche mich gerade in die Zeit, als ich von all dem noch keine Ahnung hatte, als ich zuhause auf das neue Kapitel gewartet habe, als Yannick und Alex noch total normal zu mir waren und als ich mir um nichts anderes Sorgen machen musste als um meine Schulnoten. Irgendwie geht der Schultag vorbei und ich kann es kaum erwarten nach Hause zu gehen. Ich stürme sogar regelrecht aus dem Klassenzimmer. Hauptsache keine Zeit für Fragen oder komische Blicke meiner Mitschüler, ich möchte das alles nicht. Doch leider freue ich mich viel zu früh und renne direkt hinter der Eingangstür des Schulgebäudes in Noahs offene Arme. Vor Schreck bleibe ich einfach starr stehen. Warum ist er immer dort, wo ich ihn am wenigsten brauche? In mir erwärmt sich die Wut.
"Hallo, Niklas", sagt er mit einer engelsgleichen Stimme. Seine Gesichtszüge werden weich. Mir kommt es gleich hoch. Wie kann er in so einer Situation so fröhlich sein?
"Was machst du hier?", frage ich und muss gleichzeitig einen Kloß in meinem Hals runterschlucken. So sauer ich auch auf ihn bin, irgendwie folgt meine Stimme mir nicht und fällt sogar beinahe ins Weinerliche ab. Noah wird kurz etwas blass, doch kurz darauf blitzt wieder sein leichtes Lächeln auf: "Wegen dir natürlich."
Ich muss noch einmal schlucken. Mittlerweile kommen auch andere Schüler aus dem Schulgebäude. Noah und ich werden komisch angestarrt, es wird getuschelt und alle laufen so langsam wie nur möglich an uns vorbei. Es ist eindeutig, dass wir gerade der Hauptpunkt der Schule sind. Es bilden sich sogar schon kleine Gruppen, welche leicht abseits stehen und uns wie gebannt beobachten.
"Was meinst du damit?", stottere ich, meine Augen die ganze Zeit von Schüler zu Schüler fliegend, welche sich immer mehr anhäufen. Ich meine dazwischen auch Yannick und Alex ausfindig zu machen. Schreiten sie nicht ein?
"Hast du das Kapitel gelesen?"
Ich starre Noah in die Augen. Diese wunderbaren Augen, mit denen alles angefangen hat. Wäre es anders gekommen, wenn er andere Augen als Sarah hätte?
"Ja."
Ich seufze laut. Wie sollte ich es auch nicht gelesen haben.
"Dann weißt du ja eigentlich, wieso ich hier bin", meint Noah nur geheimnisvoll und ein Raunen geht durch die Runde. Ist es das, was ich denke? Besonders lange kann ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn ohne weiteres tritt Noah die zwei Schritte zu mir nach vorne und küsst mich direkt vor allen anderen mitten auf den Mund. Ich bin überfordert, weiß nicht was ich tun soll und bemerke erst selber viel zu spät, wie ich meine Augen schließe und den Kuss erwidere. Für einen ganz kurzen Moment gibt es nur uns beide. Noah und mich. Nicht unsere Mitschüler um uns herum, nicht die Schule, nicht den Schulhof. Wir sind alleine in unserer eigenen Welt. Es ist perfekt, beinahe etwas zu perfekt, und als ich meine Augen wieder öffne und unsere Lippen uns lösen, falle ich härter als je zuvor zurück in die Wirklichkeit. Alles um uns herum ist still. Im wahrsten Sinne des Wortes hat es unseren Zuschauern die Sprache verschlagen.
"Ich liebe dich, Niklas."
Ich halte den Atem an. Mein Herz steht still. Liebe. Er liebt mich. Und er hat es ganz frei und offen gesagt, vor allen anderen. Erneut muss ich schlucken und ehe ich es merke, fließt die erste Träne über meine Wangen. Noahs Gesichtsausdruck verändert sich von zuckersüß direkt zu eiskalt. Ich sehe den Schmerz in seinen Augen, als er meine Träne bemerkt. Er möchte sie mir wegwischen, doch ich komme ihm zuvor.
"Wieso?"
Das ist das Einzige, was ich herausbekomme. Ein erstickter Schrei aus der Menge macht die Situation noch intensiver.
"Wieso jetzt auf einmal?"
Immer mehr Tränen bahnen sich den Weg über meine Wangen und fallen auf den Boden. Noah scheint immer kleiner zu werden.
"Ich hatte alles vergessen. Ich hatte keine Erinnerung mehr. An gar nichts. Weder an den Unfall, noch an mein damaliges Ich. Nicht einmal mehr an Sarah", ergreife ich das Wort und werde immer lauter, wobei ich allerdings Sarahs Namen so leise wie mir möglich ausspreche. Es fühlt sich immer noch so an, als würde meine zuvor geglaubte Welt mit Sarah jedes Mal ein klein wenig mehr verschwinden, wenn ich ihren Namen ausspreche.
"Genau deswegen. Weil du alles vergessen hast. Ich wollte nicht, dass du diese Zeit vergisst", beginnt Noah zu erklären und hebt auch ein wenig seine Sprache, lässt dies jedoch gleich wieder fallen und kauert sich ein wenig zusammen, "Ich wollte nicht, dass du mich vergisst."
Mit verschwommener Sicht blicke ich ihn an. Wie er so dasteht. Voller Mut mir seine Liebe zu gestehen und dann mache ich ihn nur nieder. Durch die Menge geht erneut ein Raunen, doch keiner rührt sich.
"Ich hab immer nur sie geliebt. Sie alleine. Hättest du mir nicht das einfach lassen können. Diese Vorstellung, dass auch sie mich liebt. Ohne mir die Wahrheit direkt auf einem Silbertablett zu servieren? Hättest du mich nicht mein Leben, so wie ich es gelebt habe, weiterleben lassen? In dem Glauben, dass wir wirklich ein Paar waren und ich für den Rest ihres Lebens an ihrer Seite war", rede ich weiter, wobei sich meine Stimme beinahe überschlägt, "auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern konnte."
Noah hielt tief Luft. Er muss sich wohl erst eine Antwort zurecht legen.
"Nein", sagt er sehr bestimmt und baut sich wieder auf, seine Ausstrahlung gleicht der von vorher, als er mir seine Liebe gestand, "Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht einfach nur zusehen, wie du all das vergessen hast, an dem ich so lange Zeit verzweifelt bin. Ich konnte es nicht wahrhaben, dass du sie einfach so vergisst. Ich konnte es nicht haben, dass du nie die Wahrheit erfahren hast."
Erneut wird es still. Die Wahrheit. Die Wahrheit, die ich ohne ihn wirklich nie erfahren hätte. Aber gleichzeitig auch die Wahrheit, die ich nie erfahren wollte.
"Ich wollte aber, dass es die Wahrheit ist. Dass ich in meiner Traumwelt weiter leben konnte, geleitet von dem Gefühl, zurück geliebt geworden zu sein."
Meine Stimme wird immer brüchiger. Das ist gerade zu viel für mich. Meine Tränen rennen immer noch weiter und ich kann gar nicht sagen, wer sich hier gerade mehr rechtfertigen muss.
"Niklas, das ist nicht normal, du bist krank-"
"Krank? Krank sagst du? Das mag zwar sein, aber ist es nicht genauso krank jemandem hinterher zulaufen, der deine Schwester liebt, sein ganzes Leben zu veröffentlichen, die ganzen Erinnerungen wieder hervorzurufen, jemand anderen seine schlechteste Zeit des Lebens zu bescheren, nur aus dem Grund, dass er die Wahrheit erfährt? Ich habe nie darum gebeten, dass du mein Leben und mein Leiden im Internet veröffentlichst", unterbreche ich Noah lautstark.
"Mann Niklas, du verstehst es einfach nicht!", Noahs Stimme wird laut, fast schon zu laut und so aufgebracht habe ich ihn noch nie erlebt, "ich habe dich schon immer geliebt und das tue ich immer noch. Ich wollte dir das alles erklären, sagen wie es wirklich war. Du kannst nicht ewig in eine tote Person verliebt sein. Versteh das doch bitte!"
Gemurmel aus der Runde dringt an mein Ohr. Mir fehlen die Worte. Beschämt schaue ich auf den Boden. Natürlich weiß ich das. Das wusste ich doch schon immer, genau deswegen war ich doch in Therapie, um Sarah zu vergessen. Doch genau das wollte ich ja nicht, weil ich nicht wollte, dass sie sie mir wegnehmen. Mittlerweile wäre ich jedoch froh, wenn sie sie mir schon damals komplett weggenommen hätten. Dann würde es das Problem jetzt gar nicht geben.
"Wenn du mich so sehr liebst, wieso verheimlichst du dann alles vor mir? Wieso kannst du mir nicht die Wahrheit sagen, wieso verschwindest du immer, wieso trittst du aus meinem Leben, noch ehe du wirklich erschienen bist? Wieso spielst du dir immer selber in die Karten und legst dir Steine in den Weg?"
Mit diesen Worten fällt das letzte bisschen Liebe, welche ich noch für Sarah empfand, von mir ab und noch nie zuvor habe ich mich so frei gefühlt.
"Denkst du das alles ist für mich einfach? Wir sind dreimal umgezogen, weil alles mich einfach an Sarah erinnerte. Ich bin doch selber noch nicht darüber hinweg, wie soll ich dir dann die Wahrheit sagen, wenn ich sie selber kaum verkrafte. Was wäre, wenn deine Amnesie irgendwann auch wieder rückgängig wird, so wie sie damals gekommen ist, und du auf einmal alles wieder wüsstest und dann sogar immer noch der festen Überzeugung wärst, dass du das glücklichste Liebespaar aller Zeiten mit Sarah warst? Wer hätte dir da dann die Wahrheit gesagt?"
Auch Noah kommen so langsam die Tränen. Vermutlich steigern wir uns beide da gerade sehr hinein: "Versteh doch bitte, dass ich das einfach nicht dem Schicksal überlassen konnte."
Eine letzte Träne verlässt mein Auge und rollt einsam über mein Gesicht. Ich schmecke das Salz in meinen Mundwinkeln und die kalte Luft, welche besonders spürbar an meinen nassen Wangen ist.
"Und was hast du jetzt davon? Meine Mutter macht sich die größten Sorgen, mein Vater gibt ihr die Schuld, sie steckt mich wieder in die Therapie, hält all das vor mir geheim, sogar die Schule mischt sich ein. Ich habe es satt, dass alle ein Geheimnis hinter meinem Rücken haben", rechtfertige ich mich, vor allem auch um endlich mal ein paar Fragen beantwortet zu bekommen, welche mir schon lange auf der Zunge brennen.
"Genau deswegen habe ich das Buch geschrieben. Damit es eben keine Geheimnisse mehr hinter deinem Rücken gibt, damit du das alles verstehst und die Welt mit den Augen der Wirklichkeit siehst. Es gab keinen anderen Weg, ich konnte ja schlecht einfach auf die zugehen und dich ansprechen, vor allem, weil du mich ja auch vergessen hast."
Ein erneutes Raunen macht die Runde. Ich suche verzweifelt nach Yannick und Alex in der Menge und blicke dann in ihre geschockten Gesichter, als ich sie finde. Natürlich wussten sie bescheid. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Die Blicke über meine Schulter, das Gespräch mit meiner Mutter. Sie wussten über alles bescheid. Meine Mutter hat sicher die Schule informiert und ihnen alles erklärt, bevor ich von meiner alten Schule zu dieser hier gewechselt habe. Da stellt sich mir jetzt natürlich die Frage, wer es außer Alex und Yannick noch weiß. Meine Augen huschen über die Menschen. Jedes Gesicht sieht gleich betroffen aus. Alle schuldig. In meinen Augen wissen sie es alle, wissen, was für eine Vergangenheit habe, dass ich nichts hinbekomme, dass ich einen Psychiater brauche um meine Illusionen in den Griff zu bekommen. Noch nie habe ich mich so eingeengt gefühlt. Und vor allem nicht so allein gelassen.
"Und was hast du dir von dem Buch erhofft? Dass ich auf dich zustürme und dich meinen Retter nenne. Meinen Helfer in der Not oder gar mein Erlöser?", formuliere ich lächerliche Titel und gestikuliere wild mit meinen Händen, "Wolltest du, dass ich mich in dich verliebe?"
Auf einmal hören die Hintergrundgeräusche wieder auf. Nicht einmal ein Vogel zwitschert in seinem Nest. Alle halten den Atem an und es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich blicke starr in Noahs Augen. Sie sagen mehr als 1000 Worte und sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass ich genau ins Schwarze getroffen habe. Ich senke meinen Kopf und schließe meine Augen.
"Herzlichen Glückwunsch, das hast du erfolgreich geschafft", flüstere ich kaum hörbar, doch mit einer Stärke, die ich von meiner eigenen Stimme nicht kenne. Und ich weiß genau, dass es alle gehört haben. Ohne lange nachzudenken nehme ich den ersten großen Schritt auf die Menschenmenge zu und drücke mir mit meinen Ellenbogen einen Weg aus dem Kreis aus Menschen, welcher mich immer weiter erdrückt hat und ich das Gefühl hatte, gleich zu ersticken. Ich möchte gar nicht wissen, wie Noah jetzt dasteht. In der Mitte des Kreises. Und komischerweise ist es verdächtig ruhig, als ich mich immer weiter von ihnen entferne. Sie wissen wohl alle nicht, was sie dazu sagen sollen. Doch was ich Noah ganz sicher nicht verübeln kann, ist die Tatsache, dass er genau das geschafft hat, was er wollte. Ich kenne die Wahrheit nun ganz genau und er hat mir im wahrsten Sinne des Wortes die Augen geöffnet, denn ich empfinde rein gar nichts mehr für Sarah.
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Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)
RandomNiklas glaubt er hat den Verstand verloren, als er sich immer mehr mit dem fiktiven Hauptdarsteller eines Buches vergleichen kann, doch was genau hat der ruhige Noah in seiner Klasse plötzlich mit ihm und weshalb bekommt er jedes Mal ein Déjà-vu, we...