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Ich weiß ganz genau, wo wir hin gehen. Ich kenne die Strecke genau. Doch ich wünschte ich würde es nicht. Ich wünschte ich hätte von all dem keine Ahnung. Dass ich das alles nicht tun müsste. Dass so etwas nie sein müsste.
Gequält steige ich aus dem Auto aus. Ich weiß ja, dass es keinen Sinn hat sich zu wehren. Früher oder später muss ich wieder hier hin. Wie selbstverständlich gehe ich in das Gebäude. Was für Fragen dieses Mal auf mich zukommen will ich mir noch gar nicht ausmalen. Meine Mutter redet wieder mit der Frau hinter dem Tresen und schickt mich dann in das gleiche Zimmer wie das letzte Mal. Als wäre ich Stammkunde setze ich mich in das Zimmer. Auf den Stuhl vor dem Tisch. Mal wieder blicke ich im Zimmer umher. Ich fühle mich schlecht, dabei habe ich gar nichts gemacht. Dabei muss ich wieder an Noah denken. Bei den Gedanken bekomme ich ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Irgendwie tut er mir ja doch leid. Dass ich ihm zugestimmt habe und dann nicht einmal bescheid gebe, dass ich doch nicht kann. Ich hasse mich in diesem Moment selber. Wieso mache ich mir schon wieder so viel aus ihm? Mit der Zeit beginne ich auf die Uhr zu schauen. Erst vergingen fünf Minuten, dann zehn. Die Zeiger scheinen immer schneller zu wandern und ich frage mich immer mehr, wo der Arzt bleibt, wieso er sich so viel Zeit nimmt. Auf dem sonst so ordentlichen Tisch liegen einige Unterlagen. Irgendwie stören sie das Gesamtbild. Als würden sie nicht dazu gehören. Oder als ob man vergessen hätte sie beiseite zu räumen. Meine Augen schweifen immer öfter über sie. Sie ziehen mich schon fast an. Noch einmal blicke ich auf die Uhr, doch ich habe leider vergessen, wie spät es beim ersten Mal war, als ich sie anschaute. Ich kann mir nur selber zusehen, wie meine Hand zu den Unterlagen schnellt und sie mit einem Griff nimmt. Langsam blättere ich die Ordner durch. Es sind insgesamt drei. Auf jedem steht mein Name. Als ich meinen Namen lese stockt mir beinahe der Atem. Ganz langsam nehme ich mir den ersten zur Hand, öffne ihn ganz vorsichtig. Er ist voller Informationen über mich. Ein Bild, mein Lebenslauf, ja sogar ein Stammbaum. Noch immer weiß ich nicht so richtig, was ich damit anfangen soll. Ich nehme mir den nächsten vor. Auf der ersten Seite steht bereits so viel geschrieben, dass ich keine Lust habe das Blatt zu lesen. Ich überfliege es nur kurz und nehme irgendetwas von chronischen Krankheiten auf, woraus ich allerdings auch nicht wirklich schlau werde. Beim Umblättern springt mir ein von Hand beschriebener Zettel entgegen. Er ist hellrosa und die Schrift ist sehr unleserlich. Ich versuche es zu entziffern. PTBS und Intrusion sind leicht zu lesen, sagen mir jedoch nichts. Auch mit dem Wort Amnesie kann ich nicht viel anfangen. Den Rest des Geschriebenen kann ich beim besten Willen nicht entziffern und auch nach mehreren Versuchen sind es für mich nur Striche auf einem Stück Papier. Die nächste Seite berichtet etwas von Depressionen und Anfällen, Traumata und Borderline. Gehört habe ich diese Wörter zwar schon, doch in meinem Kopf ergibt es keinen Sinn. Noch mehr solcher Blätter sind in diesem Ordner geheftet. Ich möchte gerade die nächste genauer anschauen, da öffnet sich eine Türe. Ich habe sie zuvor nicht bemerkt und wenn man sie nicht kennt, dann kann man sie auch sehr schnell übersehen. Vor mir steht der gleiche Mann wie beim letzten Mal. Er schaut mich unglaubwürdig an: "Solltest du nicht warten?"
Wir beide blicken uns entgeistert an, dann sieht er die Ordner in meiner Hand, welche noch halb offen auf meinem Schoß liegen. Ohne mit der Wimper zu zucken macht er zwei Schritte auf mich zu, reißt mir die Ordner aus der Hand und ist im Nu auch wieder um den Tisch gelaufen und hat sich in seinem Stuhl nieder gelassen. Gewissenhaft verstaut er sie in einer der Schubladen seines Tisches. Er stützt seinen Kopf auf seinen Händen ab. Sein Blick ist leicht genervt. Ich glaube, ich hätte diese Ordner nicht anschauen sollen.

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt