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Noch bevor ich die Bushaltestelle erreiche, weiß ich bereits nicht mehr, was ich draußen überhaupt suche. In die Schule gehen ist keine Option. Meine Mitschüler halten mich aller spätestens jetzt für unerträglich, sollten sie nicht schon zuvor der Ansicht gewesen sein. Für einen kurzen Moment überlege ich mir Tim einen Besuch abzustatten, allerdings möchte ich ihm auch sicher nicht auf die Nerven gehen. Ich komme mir wie ein kleines Kind vor, das immer Aufmerksamkeit braucht. Ganz in dem Sinne 'ich melde mich nur, wenn ich etwas von dir möchte'. Vollheulen kann ich ihn ja auch schlecht damit. Ich sehe schon den ich-habe-es-dir-ja-gesagt-Blick in seinem Gesicht. Schließlich war er von Beginn an skeptisch bezüglich Noah. Zwar hat Noah mit der Missere nichts zu tun, unschuldig ist er allerdings auch nicht und Tim hat ganz offensichtlich seine Zweifel bezüglich der Zuschaustellung unserer Zuneigung im Internet geäußert. Er wusste sicher ganz genau, dass so etwas passiert. Die Wolken am Himmel ziehen sich zusammen und leichter Nieselregen fällt auf den Asphalt. Reglos beobachte ich, wie die Straße allmählich nass wird. Ein vorbeifahrendes Auto holt mich wieder aus dem hypnotisierenden Prasseln. Wieso muss das Ganze eigentlich mir passieren. Bisher habe ich noch nie darüber nachgedacht. Für mich gab es da gar nichts zu hinterfragen, ich habe es einfach hingenommen. Meine Hände verschwinden in den Tiefen meiner Hosentaschen und enttäuscht kicke ich einen Stein vom Gehweg auf die Straße. Ohne zu wissen wieso bin ich auf einmal den Tränen nahe. Ich versuche das stechende Gefühl zu unterdrücken und blinzele in den hinabfallenden Regen hinein, in der Hoffnung, er würde die auftauchenden Tränen wegschwemmen. Bilder von Sarah huschen bei jedem Blinzeln vor meinen Augen hindurch, allerdings kann ich keines davon festhalten. Mit jedem Blinzeln bin ich mir unsicherer, ob das nun wirklich Sarah oder Noah vor meinen Augen ist. Ich wünschte ich hätte eine andere Vergangenheit. Ich wünschte das mit Sarah wäre nie passiert. Ich wünschte Noah wäre nicht ihr Bruder. Zum ersten Mal bemitleide ich mich selber. Ich versuche mich durch andere Augen zu sehen, doch außer Erleichterung, dass ihnen nicht das gleiche passiert, ist da nichts. Ich stehe dort, wo ich schonmal stand. Ich habe mich einmal im Kreis gedreht. Aus dem Jungen, der sich in die Lehrerin verliebt hat wurde der Junge, der sich in den komischen Jungen verliebt hat. Beides wunderbare Themen um hinter hervorgehobener Hand zu diskutieren. Der Regen wird stärker und meine Jacke immer nasser. Ohne lange nachzudenken laufe ich zum nächstbesten Unterstand, welcher eine alte Telefonzelle ist. Das gedämpfte Geräusch der fallenden Tropfen erfüllt die kleine Kabine und erweckt den Anschein ganz weit weg von der Gegenwart zu sein. Ich presse meine Hände an die kalte Scheibe und blicke den Regentropfen an ihrer Außenseite zu. Es sieht aus, als wären sie Meter entfernt. Vielleicht bleibe ich einfach hier drin. Die Idee einer anderen Gegenwart ist zu verlockend. Einfach abtauchen und nicht wieder auftauchen, die Uhr anhalten oder auch schlicht nur den Tatsachen nicht ins Auge schauen. Wieso ist es so viel einfach etwas zu ignorieren als etwas dagegen zu tun. Ich hasse es machtlos gegen meine Gefühle zu sein.
Doch natürlich bringt Verstecken auch nichts, weshalb ich bereits kurz darauf wieder aus der Kabine in den strömenden Regen trete. Ohne wirklich darüber nachzudenken setze ich immer schneller einen Fuß vor den anderen. Wirr laufe ich durch die Straßen und mir wird erst richtig klar, wohin ich unterbewusst ganz gezielt laufe, als ich bereits an dem kleinen Waldweg angelangt bin. Meine Schuhe geben bei jedem Schritt auf dem nassen Waldboden einen patschenden Ton von sich und gerade denke ich nur darüber nach, wie froh ich bin, dass die Bäume wenigstens teilweise den Regen aufhalten. Das Ende ist schon nach kurzer Zeit in Sicht und ich gelange zu dem stillen Friedhof. Ganz automatisch gehe ich zu Sarahs Grab, weiß aber gar nicht mal, wieso ich herkam. Die Blumen leiden unter dem starken Regen und die Wege neben dem Grab sind bereits von der nassen Graberde verschmutzt. Erneut blicke ich auf ihr Grab und fühle gar nichts. Keine Trauer, keine Reue, keine Zuneigung. Diese undefinierbare Leere ist das Einzige, das meine momentane Gefühlslage beschreiben kann. Ich bin so verwirrt aber gleichzeitig auch so sicher. Ich wünscht einfach dieses Gefühl geht schnell vorüber.
„Ganz schön unlustig heute."
Ich war so sehr in meinem Mitleid vertieft, dass ich gar nicht gehört habe, dass sich jemand zu mir stellt. Allerdings weiß ich ohne mich umzudrehen wer neben mir steht. Ich antworte nicht. Auf Smalltalk habe ich gerade keine Lust und ich wüsste nicht einmal was es bringen sollte. Ich wollte alleine sein, alleine mit meinen Gedanken.
„Es tut mir leid."
Noch immer antworte ich nicht. Das letzte Mal dass wir uns gesehen haben war in meinem Zimmer, nackt und aufeinander.
„Das wäre nicht das Erste das ich hören möchte, nachdem was letztes Mal passiert ist", antworte ich schlussendlich doch. Vielleicht klinge ich gerade verletzt, vielleicht sogar gekränkt, allerdings habe ich bei diesen Worten keine Hintergedanken. Ich vernehme Noahs leises Lachen. Fasst er es als Spaß auf? Seine Hand berührt meine Schulter, doch ich zucke ungewollt zurück und blicke ihm nun doch verwirrt ins Gesicht. Den fragenden Ausdruck kann ich nur erwidern.
„Sorry, ich wollte nicht...", beginnt er, doch ich winke ab. Ich sehne mich so sehr nach seinen Berührungen doch gleichzeitig verletzt er mich damit wie keiner vor ihm. Wir blicken uns nur stumm in die Augen. Wie lange ich ihm hinterhergerannt bin um solch eine Situation zu bekommen. Und jetzt habe ich gar kein Bedürfnis danach. Ich weiß nicht, was wir noch klären sollen, worüber wir uns aussprechen müssen oder ob ich ihm sogar etwas vorwerfen könnte. Doch Noah scheint das anders zu sehen, verlegen beendet er den Blickkontakt und spielt nervös mit seinen Fingern: „Meine Mutter hat mir von dem Gespräch erzählt."
Seine Wangen werden leicht rot und mir geht dafür die ganze Farbe aus dem Gesicht verloren.
„Danke, dass ihr keine rechtlichen Schritte einleitet."
Unfähig etwas zu sagen schaue ich nur zu, wie er den Blick immer noch nicht heben kann und die Röte in seinem Gesicht immer weiter zunimmt.
„Das sind deine einzigen Bedenken? Das ist das Einzige, dass die mir sagen möchtest?"
Ich kann es kaum glauben und fange an hysterisch zu lachen.
„Wie konnte ich mir nur Gedanken um dich machen, wenn es dir nur darum geht", äußere ich weiter mein Unglauben und fasse mir dabei an den Kopf. Ungewollt bin ich bereits den Tränen nahe, „schon mal daran gedacht das Kapitel erst gar nicht zu schreiben?"
Noah knirscht hörbar mit den Zähnen. Wahrscheinlich habe ich einen wunden Punkt getroffen.
„Weißt du überhaupt, was du mir damit angetan hast? Hast du daran gedacht, was dieses Kapitel bewirken kann? Du weißt ganz genau, dass die ganze Klasse es ließt. Aber hey, du bist ja auch zur Zeit nicht in der Schule, dann kannst du ja gar nicht wissen, wie es dort zugeht", werde ich immer lauter und spüre regelrecht, wie meine Zunge immer leichter wird und von selbst redet, „hast du mich jemals gefragt, ob ich das überhaupt möchte?"
Nun steht auch Noah den Tränen nahe und gerade würde ich ihm am liebsten in dieses süße Gesicht schlagen, da ich seinen markellosen Anblick gerade überhaupt nicht ertragen kann.
„Ich kann das nicht erklären. Ich kann das nur nicht für mich behalten. Ich bin so glücklich, dass ich am liebsten der ganzen Welt davon erzählen würde."
Seine Worte berühren mich ungewollt und ich versuche krampfhaft gegen dieses aufkommende warme Gefühl in meiner Brust anzukämpfen. Es kann doch nicht sein, dass ich alles mit mir machen lasse, nur weil er mal einen netten Satz gesagt hat. Wieso bin ich nur so beeinflussbar.
„Bitte, lass das einfach. Du machst das nur auf meine Kosten. Und das Schlimmste ist, dass du das nicht einmal weißt."
Meine Stimme ist kühl und ungewohnt fremd. Ich denke an die Telefonzelle zurück, an die andere Gegenwart, die andere Wirklichkeit. Meine eigene Realität, ohne Noah.
„Niklas, ich liebe dich", sagt Noah bereits etwas verzweifelt. Sein Blick durchsticht mein Herz und es tut mir so weh ihn leiden zu sehen. Doch ich sollte ihm nicht alles verzeihen. Es fällt mir nur so unglaublich schwer.
„Ich hasse dich so sehr", antworte ich darauf und merke, wie sehr Noah das trifft, „allerdings liebe ich dich gleichzeitig auch und das ist das Problem. Es geht einfach nicht."
Erneutes Schweigen zwischen uns. Der Klang des Regens beruhigt mich auf eine komische Weise und dass wir komplett durchnässt sind scheint keinen zu stören.
„Hör zu, es tut mir leid, was ich dir mit all dem angetan habe und du musst mir glauben wenn ich sage, dass ich das alles nicht wollte. Ich wollte dir niemals wehtun. Es stimmt, dass ich nicht immer über die Konsequenzen nachdenke und dieses Mal zu weit ging. Ich wollte mich bei dir melden, doch ich wusste nicht wie. Das Letzte das ich möchte ist dich verlieren."
Noah wird mit jedem Wort lauter, allerdings nicht als wäre er wütend, sondern aus Überzeugung und Standfestigkeit. Ich kann die Ernsthaftigkeit seiner Worte gar nicht hinterfragen und brauche ich auch nicht. Allerdings kaufe ich ihm nicht ab, dass er keinen Weg fand sich zu melden. Mir wären 100 eingefallen. Und vermutlich hätte ich in seiner Situation auch jeden dieser Wege ausprobiert.
„Es ist nicht so, dass es mir peinlich ist. Es ist auch nicht so, dass ich nicht auch glücklich bin. Ich kann es nur einfach nicht ausstehen, dass es kein uns gibt. Du bist da und dann wieder weg, ich möchte nicht immer in Ungewissheit schweben. Und ich weiß auch wirklich nicht, ob unsere momentane Grundlage für etwas Ernstes ausreicht."
Erneut äußere ich meine Bedenken, weiß aber nicht, ob sie Noah erreichen. Ich mache mir einfach zu viele Gedanken, da ich lieber weiß was Sache ist anstatt irgendwas spontan zu entscheiden. Doch er sieht es vermutlich auch ganz anders als ich.
„Ich möchte doch, dass es ein uns gibt, ich möchte nichts anderes mehr. Und es schmerzt zu hören, dass du das so siehst. Können wir nicht daran arbeiten? Ich weiß, dass es zur Zeit kompliziert ist, doch ich möchte wirklich etwas daran ändern", fleht Noah mich regelrecht an. Seinen bittenden Augen kann ich sowieso nicht widerstehen, weshalb es mir auch umso schwerer fällt auf ihn sauer zu sein. Er klingt wirklich ernst und die Vorstellung, dass ich bald an seiner Seite sein kann, ist einfach zu verlockend.
„Das wäre wirklich schön", flüstere ich nur und sehe direkt das aufgehende Strahlen in Noahs Gesicht. Gleichzeitig hasse ich mich für diese Aussage. Ich kann ihm einfach nicht wütend sein, wieso verzeihe ich ihm immer alles so schnell. Doch mein Herz sagt etwas ganz anderes und kann nicht aufhören immer schneller zu schlagen. Es wird von der schönen Vorstellung geblendet und das Wissen, dass es wahrscheinlich nicht dazu kommt verdrängt es komplett. Denn immerhin steht dem noch eine große Sache im Wege: „Aber du ziehst doch weg."
Noahs Lachen wird etwas kleiner, verschwindet aber nicht: „Darüber können wir demnächst reden. Ich sollte jetzt nach Hause und das Kapitel löschen."
Ich muss lächeln bei der Vorstellung, dass Noah mal mit mir sprechen möchte und nicht andersherum und realisiere erst danach, was er noch gesagt hat.
„Das brauchst du nicht, hat eh schon jeder gelesen", antworte ich beiläufig, dabei möchte ich seine Entscheidung nicht einmal beeinflussen, „mir hat es sogar sehr gut gefallen, es hat mich echt berührt."
Ich weiß gar nicht, wieso ich das gerade gesagt habe und könnte mich auch direkt erneut dafür verurteilen, da ich bei dem Blick, den Noah jetzt auflegt, ihn am liebsten direkt küssen würde.

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt