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Etwas langsam folge ich ihm bis ins Wohnzimmer, wo wir uns auf das Sofa setzen.
"Ich mach dir schnell Tee", sagt er noch, bevor ich richtig sitze, "Kamille?"
Ich nicke leicht, als er mich erwartungsvoll anschaut, bevor er dann zur Küche verschwindet. Er zittert leicht und er kann nicht aufhören zu lächeln. Ich verstehe ihn gerade nicht recht. Er müsste doch sauer auf mich sein. Ich habe nicht mehr mit ihm geredet, ich habe ihn ignoriert, immerhin waren wir die besten Freunde. Wieso versucht er um jeden Preis mich hier zu haben. Ohne es wirklich zu merken kommt er wieder ins Wohnzimmer, dieses Mal mit einer dampfenden Tasse.
"Ich weiß ja, dass das früher dein Lieblingstee war", beginnt er wieder das Gespräch zu suchen, während ich die Tasse an meinen Mund führe. Der bekannte Geruch gefällt mir und ich nehme direkt einen Schluck. Ich verbrenne mich an dem heißen Getränk und als Tim das bemerkt, kommt es mir vor, als würde er am Liebsten direkt aufspringen und meine Zunge kühlen.
"Also, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Erzähl mir doch mal, was du noch weißt, nur ganz grob."
Ich denke scharf nach und blicke dabei zu Tim, der schon ganz gespannt dasitzt, mit seinen Händen auf den Oberschnekeln.
"Ich weiß noch, dass du Geburtstag hattest. Dass ich dich angeschrien habe, sauer auf dich war", beginne ich und werde dabei immer langsamer, "jedoch weiß ich nicht mehr recht wie es dazu kam."
In Tims Kopf rattert es. Man sieht es ihm an. Vermutlich ringt er gerade mit sich selber, ob er Sarah überhaupt erwähnen soll oder nicht.
"Du weißt echt nicht mehr, wieso?", fragt er ganz vorsichtig. Langsam schüttele ich meinen Kopf.
"Weißt du noch, wer Sarah ist?", haucht er nur und wird dabei sogar immer leiser. Für einen kurzen Moment halte ich inne, doch dann nicke ich. An seinen Augen erkennt man, dass ihm gerade ein Stein vom Herzen fällt.
"Und weißt du noch, was du für sie empfandest?"
Diese Frage versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich versuche zu lächeln, doch es geht nicht. Erneut nicke ich. Dieses Mal allerdings viel leichter. Tim schluckt hörbar. Er weiß wohl gerade selber nicht, was er dazu sagen soll.
"Es ist kompliziert", beginnt er und schaut dabei aus dem Fenster, "du warst kompliziert."
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich kann nicht einmal wirklich sagen wieso.
"Du warst eifersüchtig. Krankhaft eifersüchtig. Auf jeden, auf jeden aus der Stufe."
Sein eindringlicher Blick trifft mich, als er seine Augen von dem Fenster löst. Er lässt es micht direkt kalt den Rücken hinunterlaufen. Ich kann seinem Blick nicht standhalten und muss auf meine Hände blicken. Gerade fühle ich mich einfach nur schlecht. So schlecht wie nie zuvor. Es fühlt sich an, als würde er mich verurteilen. Für etwas, was ich vor Jahren war.
"Sie hat uns damals Nachhilfe angeboten. Jedem aus der Klasse. Wir trafen uns immer gemeinsam bei ihr. Die Nachmittage mit Mathe und Englisch waren oft sehr lang, da sie sich um jeden kümmern wollte", erklärt er weiter. Mir kommen wieder Bilder in den Sinn. Wie wir bei ihr saßen. An dem großen Tisch, an dem auch ich bereits saß. Mit Noah. Bei seinem Namen wird mir nur noch komischer. Ob ich Tim von ihm erzählen sollte?
"Es dauerte nicht lange, da bemerkte sie, dass das so keinen Sinn hat. Sie begann damit kleine Gruppen zu bilden, die auf ungefähr dem gleichen Niveau waren."
Auch daran kann ich mich erinnern. Ich war sogar mit Tim in einer Gruppe. Wir sind beide wirklich schlecht in Mathe.
"Irgendwann hat sie dann sogar aus den Gruppen einzelne Schüler gepickt, welche besonders lange brauchten."
Ich klebe schon fast an seinen Lippen. Auf einmal kommen alle Erinnerungen wieder hoch und ich weiß noch genau, wie das damals war.
"Ich war einer davon."
Er macht eine bedeutende Pause. Ich war keiner. Das weiß ich noch. So schlecht war ich dann auch wieder nicht, allerdings wusste ich nie, ob das gut oder schlecht ist.
"Ich weiß noch, einmal als ich Einzelunterricht hatte, da kamst du. Ohne Termin, einfach so. Sie hat ewig gebraucht um dich wieder los zu werden."
Mir wird es immer peinlicher. War ich wirklich so aufdringlich? Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, so nervig gewesen zu sein.
"Auf jeden Fall warst du ein paar Mal unangekündigt da, das hat sie mir auch erzählt. Sie hat sogar überlegt rechtliche Schritte einzuleiten, sollte es nicht besser sein."
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Eigentlich hätte ich mir das auch denken können. Jeder würde so handeln, wieso also rücksicht nehmen auf mich?
"Ob sie das schlussendlich wirklich getan hat weiß ich nicht."
Ungewollt muss ich an ein Gespräch mit Sarah denken, was kurz vor ihrem Tod stattfand. Ich kam mal wieder ohne Ankündigung zu ihr. Natürlich war sie darüber nicht erfreut. Irgendwie kam es dann zum Streit. Was ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Vermutlich etwas von wegen, sie wäre meins oder so. Auf jeden Fall kann ich es mir gut vorstellen, dabei habe ich zu so eine Aussage gar kein Recht. Es war klar, dass sie mich nicht da haben wollte, doch ich wollte es nicht sehen. Sie sagte sie möchte mich hier nicht mehr sehen, ich solle nie wieder kommen, ansonsten ruft sie die Polizei.
"Es war wieder ein Tag wie jeder andere, du bist eine Zeit lang nicht unangekündigt aufgetaucht, du warst zu der Zeit auch nicht in der Schule. Ich dachte eigentlich du wärst einfach krank", erzählt Tim weiter und reißt mich aus meinen Gedanken. Er lehnt sich etwas nach vorne und schaut angestrengt auf den Boden.
"Kurz vor meinem Geburtstag bist du dann wieder aufgetaucht, in der Schule warst du aber trotzdem nicht. Viel habe ich an diesem Tag nicht mitbekommen. Ich hab euch beide gehört, bin aus dem Wohnzimmer zur Türe gegangen. Du wolltest mal wieder nicht von ihrer Seite treten, doch du im Gegensatz wolltest nicht gehen. Wieso genau das Folgende passierte weiß ich nicht recht. Du hast mich gesehen und bist dann direkt gegangen."
Seine Worte treffen mich hart. Ich weiß natürlich, wieso ich damals gegangen bin.
"An meinem Geburtstag kamst du dann zu mir, einfach so, du hast mir nicht einmal eine Antwort gegeben, ob du überhaupt kommst. Dann hast du mir Dinge an den Kopf geworfen, schlimme Dinge. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern, ich habe es verdrängt."
Tim wird beim Reden immer schneller und es klingt fast so, als wäre er wütend.
"Du warst sauer, weil ich alleine bei Sarah war, doch du wolltest mir nicht zuhören. Du hast dir keine meiner Erklärungen angehört", er hält kurz inne und schaut mich dann erneut sehr innig an, "ich hatte doch nur Nachhilfe bei ihr."
Zwischen uns herrscht Stille. Natürlich ergibt das alles jetzt einen Sinn. Nur hat es das damals für mich nicht. Ich habe in ihm nur den Jungen gesehen, der Zeit alleine mit meiner Freundin verbrachte. Bei diesem Gedanken muss ich fast lachen. Meine Freundin. War sie das überhaupt? Mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Und erst jetzt wird mir so wirklich bewusst, was die ganze Situation gerade mit mir macht. Dass ich mir nicht einmal mehr bei so einer einfachen Frage sicher bin, etwas, bei dem ich mir doch immer so sicher war.
"Danach hast du dich abgewändet. Allerdings dauerte es nicht lange, du weißt", er fängt meinen Blick noch einmal auf, "bis zu Sarahs Unfall."
Aus Prinzip setzt mein Herz kurz aus. Nur weil ich Sarahs Namen in Verbindung eines Unfalls höre.
"Die ganze Klasse war an der Beerdigung, das hat dir natürlich überhaupt nicht gefallen", spricht er weiter und lenkt meine Gedanken wenigstens etwas vom Unfall weg.
"Naja, kurz darauf bist du dann in Behandlung gegangen. Ich wollte so oft wieder Kontakt zu dir aufnehmen, doch es wurde mir verboten. Ich habe oft mit deiner Mutter darüber geredet, doch natürlich konnte sie mir auch nicht weiterhelfen. Was sollte man auch tun, wenn der Arzt das verordnet."
Ich muss schwer schlucken. Diese Seite der Geschichte kenne ich noch gar nicht. Die ganze Zeit dachte ich, er redet nicht mit mir, weil ich seinen Geburtstag zerstört habe und ihm nicht zuhören wollte.
"Wieso darf ich dann dieses Mal noch Kontakt zu meinen Freunden haben?"
Für einen kurzen Moment wirkt Tim überrascht, doch er fängt sich schnell wieder: "ich wusste gar nicht, dass du wieder in Behandlung gehst."
Ich zucke mit den Schultern. Irgendwie ist mir das doch etwas unangenehm, wenn nicht sogar peinlich.
"Was meinst du aber, mit wem du so Kontakt hast?", fragt er nach und ich merke, wie er dabei etwas verkrampft.
"Yannick, Alex", zähle ich auf und warte einen Moment, da ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich weiterreden soll, "und Noah."
Bei Noahs Namen verkrampft er sich noch mehr und schaut mich unglaubwürdig an: "Sarahs Bruder?"
Ich nicke leicht. Wir beide schweigen. Tim schaut wieder aus dem Fenster. Ich würde mich auch so verhalten, wenn mir mein bester Freund gesagt hätte, er hätte mich durch seinen Feind ersetzt.
"Wie kommst du gerade zu ihm? Halte dich lieber von ihm fern!"
Ich atme leicht genervt aus. Er ist ja nicht der erste, der mir das rät: "Er geht in meine Klasse und irgendwie hatten es die Lehrer darauf angelegt, dass wir Zeit miteinander verbringen."
So im Nachhinein fällt mir erst wieder auf, wie er uns in England aufgedrängt wurde, da wir ihn gar nicht wollten. Wie das Blatt sich wenden kann, auf jeden Fall für mich. Tim schaut mich nur verständnislos an.
"Was mischen sich die Lehrer da ein? Aber glaub mir, Niklas, er wird dir nicht gut tun!"
Ich schweige. Was sollte ich dazu sagen. Dass er recht hat, dass er mir wirklich nicht sonderlich gut tut, mit der Geheimnistuerei und den Lügen, dem Verschwinden, den Rätseln. Doch gleichzeitig liebe ich ihn auch. Nach einer Ewigkeit kann ich wieder etwas mehr für jemand anderen empfinden. Und in gewisser Maßen tut er mir mehr als gut, nur durch seine Anwesenheit. Ich seufze. Bei diesem Thema gibt es wohl wirklich zwei Seiten. Ich schweige einfach. Selber kann ich ja auch nicht beantworten, wieso sich die Lehrer da einmischen. Um ehrlich zu sein ist es mir auch recht egal. Klar hat es anfangs gestört, doch ich weiß nicht recht, ob ich ihnen nun dankbar dafür sein soll. 
"Was hat er dir denn so erzählt? Ich wette nur Lügen!", regt sich Tim weiter auf und wird dabei nur noch angespannter. So langsam bekomme ich schon fast angst vor ihm. 
"Willst du ihn jetzt auch noch schützen?!"
Dieses Mal schreit er beinahe. Er scheint selber zu merken, dass er etwas übertreibt und entfernt sich direkt ein wenig von mir. Wir schauen uns in die Augen, doch sein Gesicht wird leicht rot und seine Wut verschwindet allmählich.
"Woher kennst du ihn eigentlich?"
Ich verschärfe meinen Blick und beobachte jede seiner Bewegungen. Er wird zuerst weiß im Gesicht, wirkt sehr erschrocken, doch er fängt sich schnell wieder: "Natürlich von der Nachhilfe. Er war immer mit von der Partie, hat auch ein bisschen erklärt, versucht zu helfen halt."
Ich erwidere nichts. So ganz kaufe ich ihm das nicht ab. Er kann Noah gar nicht so gut kennen um über ihn so urteilen zu können. Er kann vor allem gar nicht wissen, wie er mich behandelt oder was er mir sagt. Das ist alles nur reine Spekulation. 
"Niklas, glaub mir, ich habe genug von ihm erfahren, dass ich das mit Sicherheit sagen kann. Er wird dir nicht gut tun", sagt er, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich gebe auf und kann seinem Blick nicht weiter standhalten. Ich mag es überhaupt nicht, wenn ich von jemanden verurteilt werde. Und dann auch noch von meinem ehemaligen besten Freund. Wir sitzen eine Weile schweigend da, keiner von uns beiden weiß, was er sagen soll. Gerade als ich aufstehen möchte um zu gehen, wird die Haustüre aufgeschlossen, was uns beide zusammenzucken lässt.
"Hallo Tim, ich bin wieder zuhause, ich hab dir dein Lieblingsessen mitgebracht."
Ich erkenne die Stimme natürlich sofort und wer sollte auch sonst ins Haus kommen und Tim Essen mitbringen. 
"Huch, wir haben Besuch?", erschreckt sich seine Mutter, als sie ins Wohnzimmer kommt, die Hände vollbepackt mit Tüten. Sie mustert mich sehr innig: "Niklas?"

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt