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Als ich das nächste Mal aufwache ist es bereits dunkel. Ich schrecke hoch, als wäre ich gerade aus einem Albtraum erwacht. Die ganzen Erinnerungen kommen wieder in meinen Kopf und treffen mich wie ein Dolch durchs Herz. Ich bekomme schreckliche Kopfschmerzen und bemerke erst jetzt, dass meine Mutter fürsorglich an meiner Bettkante sitzt. Als ich erwache reagiert sie sofort und nimmt mich sachte in den Arm. Doch davon will ich gar nichts wissen. Ich stoße sie leicht von mir, was sie kurz aufschrecken lässt. Zwar tut es mir im gleichen Augenblick sofort leid, doch ich bin gerade wütend. Sehr wütend. Undzwar auf Noah.
Auf der Stelle stehe ich auf, ziehe mir etwas über und schlüpfe in meine Schuhe. Meine Mutter versucht mich gar nicht abzuhalten und fragt nicht nach, erst als ich aus der Tür gehen will hält sie mich fest. Wir blicken uns kurz an, ohne ein Wort zu wechseln. Ich bemerke ihren traurigen Blick, was mich meine Wut kurzzeitig vergessen lässt.
"Kannst du mich schnell wohin fahren?"

Keine zehn Minuten später stehe ich vor Noahs Haus und klingele sturm. Dieser öffnet mir schon fast erleichtert die Türe, als hätte er gedacht etwas sei passiert und dass er angst um mich hatte.
"Niklas, ich dachte schon du kommst nicht mehr", begrüßt er mich mit strahlenden Augen. Dieses Funkeln macht mich nur noch wütender, weshalb ich ihn nur grimmig anschaue. Sein Geschichtsausdruck wechselt sich schlagartig: "Ist etwas passiert?"
Ich muss mir ein empörtes Schnauben unterdrücken: "Das fragst gerade du? Wer hat mir da denn alles verheimlicht? Tust so, als wüsstest du, wie es mir geht, als würdest du mich verstehen, dabei kanntest du meine ganze Geschichte. Ja, noch schlimmer: du warst sogar dabei! Und was machst du damit? Veröffentlichst sie im Internet! Nutzt sogar noch aus, dass ich mich an kaum etwas erinnern kann. Was denkst du dir eigentlich?!"
Ich brülle ohne Punkt und Komma, meine Stimme wird dabei immer lauter und als ich endlich zum Ende komme, muss ich erst einmal verschnaufen. Noahs Augen sind augenblicklich wieder leer und dunkel. Schon fast traurig.
"Du weißt es jetzt also."
Ohne ein weiteres Wort zu sagen kommt er auf mich zu, schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf einen der Stühle, welche auf der Terasse stehen. Ich denke gar nicht erst daran mich auch zu setzen, dazu bin ich viel zu sehr in rage.
"Ich wusste, dass dieser Tag kommen wird. Eigentlich wollte ich dir ja alles erklären heute. Doch das schien doch alles anders zu kommen. Ich weiß im Moment nicht einmal wirklich, wo ich anfangen soll."
Noah lehnt sich nach vorne, blickt auf den Boden. Er scheint wohl sehr angestrengt nachzudenken.
"Ich war damals eine Klasse über dir", beginnt er leise zu erzählen. Zwar habe ich Noah noch nie wirklich aufgebracht erlebt, aber so ruhig wie er gerade ist, ist selbst mir neu, "Meine Schwester hatte in ihrem Todesjahr gerade ihr Referendariat beendet und durfte endlich eine Klasse alleine unterrichten, deine Klasse. Das war schon immer ihr Traum. Schon als sie jünger war träumte sie davon Kindern etwas beizubringen, an ihrem Lernprozess teil zu haben. Sie unterrichtete Mathe und English. Beides nicht deine Stärken. Und das ist ihr auch direkt aufgefallen."
Noahs Worte werden immer kräftiger, als würde er immer sicherer werden indem er das erzählt.
"Ich mochte dich damals. Sogar sehr. Du bist mir irgendwie aufgefallen. Und dann konnte ich dich nicht mehr vergessen. Ich wusste davor nicht einmal selber, dass ich so etwas für einen Jungen empfinden kann."
Auf einmal werden seine Worte wackeliger und seine Pausen immer länger. Ich möchte ihn nicht dazu zwingen etwas zu sagen, aber andererseits möchte ich auch endlich Gewissheit. Er schaut kurz zu mir auf, doch mein Blick ist immer noch eiskalt: "Auf jeden Fall hat sie dann eines Tages davon angefangen zu erzählen. Dass es einige Schüler in der Klasse gäbe, die nicht so wirklich mit dem Stoff klar kommen. Sie nannte auch deinen Namen. Mittlerweile bin ich überhaupt nicht mehr stolz darauf, doch ich konnte in diesem Moment nicht anders. Ich wollte dich einfach kennenlernen."
Erneut blickt er zu mir auf, mein Blick wird ganz kurz weich, doch im gleichen Moment auch direkt wieder hart. Leicht enttäuscht blickt er ein weiteres Mal auf den Boden.
"Ich habe sie darum gebeten ihnen Nachhilfe zu geben. Den Schülern. Sie war zuerst etwas abgeneigt, aber merkte schnell, dass sie den Schülern somit noch viel besser helfen kann. Natürlich bist du sofort darauf angesprungen."
Er atmet kurz tief aus: "Du warst verliebt in sie. Das wusste jeder. Sogar Sarah. Es war so offensichtlich. Wie du sie angeschaut hast, immer bei ihr sein wolltest, ja du hast dich sogar auf die Fächer gefreut, dabei magst du Mathe und Englisch eigentlich nicht wirklich. Jeden Abend hat Sarah mir davon berichtet. Wir haben uns damals alles erzählt. Alles."
Noahs Stimme wird brüchiger und die letzten Worte klingen schon fast so, als würde er weinen: "Nur von meiner Liebe zu dir wusste sie nichts."
Ich muss schlucken. Ich war eigentlich fest davon überzeugt, dass ich Noah ab heute hassen werde. Doch ich kann es irgendwie nicht. Etwas an seiner Geschichte reißt mich mit. Dabei ist es meine eigene.
"Es ging nicht lange, da wurdest du immer aufdringlicher. Hast nach Sonderstunden gefragt, mehr Nachhilfestunden, dabei wurden deine Noten sogar besser. Du wurdest eifersüchtig, wenn Sarah anderen Schülern Nachhilfe gab. Du konntest es nicht aushalten."
Ohne es wirklich zu wollen springt mir mein damaliger bester Freund in den Sinn. Mir geht ein Licht auf, was ich zuvor immer unterdrückt habe. Oder fällt mir das gar erst jetzt auf? Plötzlich kommen mir wieder Zweifel. Ob nicht gar ich der Schuldige für meine ganzen Schmerzen bin.
"Irgendwann habe ich davon gehört, dass du eine psychische Störung hast. Schon lange. Und dass du dir einbildest mit Sarah zusammen zu sein. Auf einmal bekam ich Mitleid mit dir. Ich wollte dich oft darauf ansprechen, dich warnen, doch ich wusste selber nicht wie. Es schien so, als würde man sich bereits darum kümmern. Soweit ich weiß wurde Sarah sogar angeordnet dir vorerst nichts darüber zu sagen, bis du in Behandlung kommst. Mit jedem Tag schmerzte es mir selber mehr dich zu sehen wie du Sarah immer weiter hinterher liefst. Ich war es auch der sie gebeten hat dir keine Nachhilfe mehr zu geben."
Mit einem Mal wird mir ganz kalt. Ich kann Noahs Worten folgen, doch sie verwirren sich in meinem Kopf. Ich weiß nicht einmal wirklich, wie ich auf das alles reagieren soll.
"Bitte seh das nicht falsch. Ich wollte dir nur helfen, dich von ihr fernhalten. Sie tat dir schon damals nicht gut. Auch wenn das heißt, dass ich dich nicht mehr sehe, dich nicht mehr in unserem Haus höre, wenn du mal wieder eine Matheaufgabe nicht ganz kannst. Und vor allem hieß das, dass deine gute Laune sich fortan verschlechtern wird. Denn wie würdest du reagieren, wenn man dir den Umgang mit Sarah verbietet, die Person, die du am meisten zu mögen schienst."
Meine Füße fingen langsam an zu zittern und meine Knie werden immer weicher. Ich kann es nicht mehr aushalten und setze mich auf den Boden, meine Arme lege ich um meine Beine und ziehe sie näher an meinen Körper.
"Doch dann kam alles anders. Es war Klassenausflug, soweit ich weiß, Sarah war auf dem Weg zur Schule mit ihrem Auto. Sie stand auf den Gleisen. Die Schranken waren schon seit Tagen kaputt und leitenden Polizisten hat sie komplett übersehen. Sie musste sich beeilen und hetzte bereits am Morgen durch das ganze Haus. Es kam, wie es kommen musste und der gerade anfahrende Zug fuhr mit vollem Tempo in ihr Auto. Sie war sofort tot. Keine Chance mehr auf Überleben."
Noah beendet seine Erklärung und schweigt. Wir schweigen beide und schauen dabei nur auf den Boden der Terasse. Ich weiß nicht was ich sagen soll, er weiß nicht, was er sagen soll. Meine Gedanken sind so verwirrt wie noch nie zuvor. Auf einmal vernehme ich ein Schluchzen. Er leise und dann immer lauter. Entsetzt blicke ich in Noahs Gesicht, welches schon von Tränen überrannt wird. "
"Zu ihrer Beerdigung war die ganze Klasse eingeladen. Die Schulleitung hat das organisiert und meine Eltern stimmten zu. Einige Schüler haben ihren Unfall beobachtet. Du warst einer davon. Als du am Bahnsteig standest", beginnt Noah wieder, dieses Mal aber mit viel weniger Mut in der Stimme, "...ich war auch dort."
Ich muss schlucken. Ich erinnere mich wieder daran. Ebenso an meinen Traum, an Noahs Beschreibung. Er tut mir mit einem mal sehr leid. Bei dem Tod seiner eigenen Schwester anwesend zu sein ist so ziemlich das Letzte, was ich selber wollen würde.
"Ich konnte nicht damit umgehen. Ich habe mich stark zurückgezogen. Es dauerte nicht lange, da beschlossen meine Eltern in eine andere Stadt zu ziehen. Ich musste eine Klasse wiederholen doch gewisse Umstände veranlassten uns wieder hierher zu ziehen. Meine Eltern wählten bewusst ein anderes Haus, in einem anderen Stadtteil. Doch leider liegt es noch näher am Friedhof als unser altes Haus."
Gebannt blicke ich auf Noahs Lippen. Ich verstehe ihn nicht wirklich. Das Haus kam mir doch so bekannt vor. Als wäre ich schon oft hier gewesen. Dabei ist es ein anderes. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich meinen eigenen Gedanken bei Sarah noch trauen kann. Ob das überhaupt alles passiert ist, was ich dachte und denke. Wie viel davon habe ich mir eingebildet.
"Als ich mit dir in eine Klasse kam war es wie ein Schlag ins Gesicht. Ich dachte zuerst dich hätte das Ganze noch härter getroffen als mich. Doch du schienst wie ein anderer Mensch. Du warst komplett ausgewechselt. Ich konnte es mir selber nicht erklären. Ich hingegen war noch lange nicht über ihren Tod hinweg. Oft habe ich geschrieben, auch über ihren Tod und manchmal sogar über dich. Das Ergebnis davon kennst du ja bereits. Ich wollte eine Welt kreieren. Eine Welt, in der wir beide eine gemeinsame Zukunft haben. In der du über Vorstellung hinüberschaust. Eine Welt in der Sarah weiterlebt."
Wir schweigen uns wieder an. Noahs Tränen werden mit der Zeit weniger, dafür aber größer und auf einmal merke auch ich, dass meine Augen anfangen zu tränen. Nie habe ich Noahs Seite der Geschichte beachtet. Immer habe ich nur auf mich selber geachtet. Erst jetzt fällt mir auf, wie egoistisch ich doch bin. Ich kann nicht anders als mit dem Kopf zu schütteln. Meine Tränen werden immer schneller und von Sekunde zu Sekunde halte ich es weniger in Noahs Gegenwart aus. Prompt stehe ich auf und wische mir meine Tränen mit der Hand leicht weg.
"Danke", nuschele ich schon fast zu undeutlich und verlasse dann die Terasse. Noah sagt nichts. Er sitzt nur weiter da, weinend. Er hebt nicht einmal seinen Kopf und ich traue mich nicht zu ihm zurück zu schauen. Mit jedem Schritt fühle ich mich schlechter und mit jedem Schritt werden meine Tränen immer schwerer und das endet nicht einmal, als ich bei meiner Mutter wieder ins Auto steigen und sie mich ohne etwas zu fragen wieder nach Hause fährt.

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt