Ich bleibe nicht lange in meinem Zimmer und beschließe nach draußen zu gehen. Wenn ich hier bleibe kommt mein Vater nur noch auf Ideen. Sicher müsste ich dann die Garage ausräumen oder so etwas. Leise husche ich aus meinem Zimmer und begegne bis zur Haustüre keinem meiner Elternteile. Eigentlich möchte ich auch gar nicht wissen, wo sie gerade sind. Zur Sicherheit beschließe ich, später meiner Mutter eine SMS zu schicken, bevor sie die Polizei damit beauftragt mich zu suchen. Als ich meine Schuhe und Jacke anhabe, biege ich auf der Straße direkt links ein. Ich glaube ich weiß bereits, wo ich hin gehe, doch ob das eine gute Idee ist, ist eine andere Frage. Auf dem ganzen Weg überlege ich mir Ansätze für Fragen oder auch bereits mögliche Antworten, bis ich leider viel zu schnell vor dem Reihenhaus stehe. Einen kleinen Moment bleibe ich auf dem Gehweg stehen und betracht es einfach nur, wie es so ganz still und normal dasteht. Ob sich das ändern wird, wenn ich klingele? Ohne es mir vielleicht doch noch einmal anders überlegen zu können, gehe ich schnellen Schrittes zur Haustüre. Ich drücke die Klingel tief ein und halte dann den Atem an. Es vergehen sicher nur wenige Sekunden, bis sich die Tür öffnet und ich erleichtert ausatme.
"Ja?", fragt micht Tim. Das Fragezeichen in seinem Gesicht sieht man förmlich, allerdings bemerke ich auch schnell, dass er sich über meinen Besuch freut.
"Ich wollte vorbei kommen und dachte, wir könnten ein bisschen reden", gebe ich zu und scharre dabei mit der Fußspitze auf dem Boden. Irgendwie ist mir das gerade peinlich. Als würde ich ein Mädchen um ein Date bitten. Tim schaut sich schnell verstohlen um und wirft dann einen Blick ins Hausinnere. Er scheint mit sich selber zu ringen, als er auf den Boden schaut und sachte seine Lippen beißt.
"Gerne, aber nicht bei mir zuhause. Sollen wir zu dir?"
Sofort schüttele ich den Kopf: "Ausgeschlossen."
Tim nickt verständnisvoll. Ich muss nicht einmal sagen wieso und er fragt auch nicht. Mein Herz macht dabei einen Hüpfer. Vermutlich ist es doch eine gute Idee, dass ich gekommen bin. Tim zieht sich ebenso schnell seine Jacke und Schuhe über, ehe er etwas ins Haus ruft und dann die Tür hinter sich schließt. Schweigend laufen wir die ersten Meter nebeneinander, ohne wirklich zu wissen, wo wir eigentlich hinlaufen.
"Und, wie geht es dir so?", fragt Tim irgendwann um das Eis zu brechen. Ich zucke nur mit den Schultern. Ich weiß es ja nicht einmal selber.
"Und dir?", frage ich stattdessen und blinzle ihn von der Seite an. Er mustert mich kurz komisch, bevor er erzählt. In der Schule laufe es ganz gut, sein Fußballverein steigt demnächst auf und es gibt da ein Mädchen, auf welches er steht und das auch ihn zu mögen scheint. Bei seiner Erzählung strahlt er immer mehr und ich freue mich wirklich für ihn. Es freut mich selber, dass es in seinem Leben so gut läuft. Ob das wohl anders wäre, wenn ich immer noch Teil seines Lebens wäre? Würde sich mein Leben in seinem wiederfinden oder sogar abfärben? Bei diesem Gedanken muss ich heimlich grinsen. Es ist, als würden wir komplett gegenteilige Leben führen. Noch während Tims Erzählung biegen wir in den Park ein. Sofort beim Eintreten kommt ein kalter Wind auf. Ich ziehe meine Jacke enger zusammen. In diesem Park kommen mir direkt wieder die ganzen Bilder mit Noah. Ohne es wirklich steuern zu können setzen wir uns auf die Bank vor dem Teich.
"Hier saßen wir früher oft", beginnt Tim und lächelt leicht, als ich ihn von der Seite anschaue.
"Hmmm", gebe ich nur von mir und werfe einen Stein in den Teich, welcher bereits von einer dünnen Schicht Eis belegt ist. Das laute Geräusch erschreckt ein paar Vögel, die am Ufer herumhüpfen.
"Wir waren doch auch mal mit Sarah hier. Mit der ganzen Nachhilfe. Und dann haben wir hier unterricht gemacht."
Für einen kurzen Moment zucke ich zusammen, allerdings nur, weil ich anstatt Sarah Noah verstanden habe. Ich schweige und werfe erneut einen Stein in den Teich. Tim starrt ebenfalls auf das Wasser, welches langsam die Ringe des eingesunkenen Steines glättet.
„Worüber wolltest du reden?", fragt er und schaut mich dann innig an. Wir blicken uns einen Moment an, bevor ich seinen fragenden Augen nicht mehr standhalten kann und auf den Boden starre. Mit meiner Fußspitze kratze ich erneut am Boden.
„Mein Vater ist wieder da."
Langsam traue ich mich Tim wieder anzuschauen, welcher, wie ich gehofft habe, mich total verwirrt anstarrt.
„Wie dein Vater? Ich dachte er sei wegen dir gegangen?"
Seine Worte versetzen mir einen kurzen Stich ins Herz. Dabei wusste ich es ja eigentlich bereits.
„Naja, laut seiner eigenen Aussage habe meine Mutter ihn wohl betrogen, deshalb sei er gegangen", erzähle ich wahrheitsgemäß und merke bereits die Wut in mir aufkommen.
„Was? Wie kommt er denn auf so einen Blödsinn?", lacht Tim und für einen kurzen Moment möchte ich mitlachen. Eben. Das war Blödsinn. Ich wusste doch, dass er lügt.
„Also ich glaube kaum, dass mir damals etwas anderes erzählt wurde", spricht er weiter und sein Gesicht wird wieder ernst, „nach unserem Streit wollte ich natürlich wieder Kontakt aufnehmen und all das, aber fragwürdige Zustände ließen es nicht zu. Ich kann mich noch an einen Mittag erinnern, als du im Krankenhaus warst und deine Mutter mir alles erklärt hat."
Ich hänge regelrecht an Tims Lippen. Außerdem lässt mich die Tatsache, dass er danach wirklich noch weiter versucht hat Kontakt mit mir aufzunehmen, irgendwie erwärmen.
„Sie meinte halt, er hätte etwas gegen Sarah und verabscheut dich und das. Sie war am Boden zerstört. Das war kurz nach Sarahs Tod. Dabei hätte sie doch genau damals die Unterstützung deines Vaters gebraucht."
Tim schüttelt verständnislos den Kopf. Genau so hatte ich es auch in Erinnerung. Dass er uns einfach alleine ließ, ohne sich um uns zu sorgen.
„Aber genau das versucht er jetzt zu vertuschen. Irgendwie möchte er jetzt den Supervater spielen, mischt sich in mein Leben ein. Es würde mich nicht wundern, wenn er auf einmal aus dem Busch springt", beichte ich Tim weiter und merke, wie mir die Worte immer leichter über die Lippen kommen. Tim scheint mein Entsetzen zu verstehen, denn er schnaubt leise auf: „Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Schon früher wollte er immer den Ton angeben. Weißt du noch an deinem 12. Geburtstag? Als er bestimmen wollte, wer kommt und wer nicht? Ich habe es dir natürlich nie gesagt, aber ich konnte ihn noch nie leiden."
Bei seinen Worten muss ich leicht schmunzeln. Nicht weil sie mich erfreuen, sondern weil er sich total für mich einsetzt, dass er mich versteht und ich gar nicht beschreiben kann, wie froh ich bin, jemals so einen Freund gehabt zu haben.
„So im Nachhinein sehe ich das genauso, doch ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr daran erinnern, darum weiß ich nicht wirklich, wem ich glauben soll", gebe ich zu und schaue wieder auf den Boden, da mir das doch recht peinlich ist.
„Niklas", beginnt Tim und greift an beide meiner Schultern, damit ich ihm ins Gesicht blicken muss, „ich würde dich niemals anlügen, ich hätte doch gar keinen Grund dazu."
In Tims Augen liegt Ehrlichkeit und auch ein wenig Trauer oder Verlorenheit. Sie rufen regelrecht ‚glaub mir'. Ich muss schlucken. Natürlich möchte ich ihm glauben. Ich glaube ihm ja auch. Tim verstärkt seinen Griff ein wenig, während wir uns einfach nur in die Augen starren. Sein Blick wird immer leidender und für einen kurzen Moment spüre ich eine komische Spannung zwischen uns. Fast schon etwas Romantisches. Meine Gesichtszüge werden weicher und ich muss sogar schon fast lächeln. Ich lockere meine Schultern ein wenig und genau in dem Moment als ich etwas erwidern wollte, rutscht mein Blick über Tims Schulter und erblickt natürlich direkt die starrenden grünen Augen in der Ferne. Sofort verkrampfe ich und mein Gesicht wird ganz kalt. Ich scheine nicht der Einzige zu sein und so starren Noah und ich uns aus der Ferne an. Vermutlich dauert es nur wenige Millisekunden, doch für mich fühlt es sich wie Stunden an, in denen wir uns einfach nur anschauen. Mir fliegen Bilder durch den Kopf und sein Lächeln bleibt am längsten bestehen. Doch dann dreht er sich ruckartig um und geht davon, seine Haare leicht vom Wind verweht.
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Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)
RandomNiklas glaubt er hat den Verstand verloren, als er sich immer mehr mit dem fiktiven Hauptdarsteller eines Buches vergleichen kann, doch was genau hat der ruhige Noah in seiner Klasse plötzlich mit ihm und weshalb bekommt er jedes Mal ein Déjà-vu, we...