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Ich verharre in meiner Position und lausche wie meine Mutter die Türe öffnet. Eine herzliche Stimme erfüllt unseren Eingangsbereich und obwohl sie sehr leise spricht, kann ich die Stimme deutlich verstehen. Allerdings kann ich noch mehr als das, ich kann sie nämlich auch ganz genau zuordnen. Mein Herz wird schneller, vor allem als sie meinen Namen nennt.
„Ich schaue mal nach ihm", antwortet meine Mutter und steigt dann die Treppenstufen hinauf. Kerzengerade setze ich mich in meinem Bett auf, als hätte ich keine Ahnung, was hier gerade abgeht.
„Niklas? Telefonierst du noch? Kannst du bitte runterkommen, du hast Besuch", teilt sie mir durch meine Türe mit. Ihre Stimme klingt belegt. Verständlich, wäre meine auch. Ohne zu warten gehe ich aus meinem Zimmer, meine Mutter noch davor stehend. Ich versuche ihr zuzulächeln, scheitere jedoch kläglich dabei. Gemeinsam gehen wir die Treppe hinunter und mit jedem Schritt erkenne ich mehr des Körpers unseres Besuchs, bis ich schlussendlich Noahs Mutter direkt gegenüberstehe. Sie sieht verändert aus, ihre Augen sind noch leerer und ihre Haltung lässt auf zu wenig Ruhe hinweisen. Dennoch lacht sie mich an, als sie mich sieht: „Hallo, Niklas."
Gemeinsam begeben wir uns ins Wohnzimmer. Die Stimmung zwischen uns allen ist bedrückt. Und ich kann mir schon sehr gut vorstellen, wieso sie hier ist.
„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie ich anfangen soll", wagt sie den ersten Versuch leise, „vielleicht ist auch schon klar, wieso ich hier bin."
Ich sitze so still wie noch nie auf dem Sofa. Es ist mir peinlich meine Mutter anzuschauen.
„Erst einmal möchte ich mich natürlich im Namen meines Sohnes entschuldigen. Ich weiß wirklich nicht, was über ihn gekommen ist, so etwas zu schreiben", beginnt sie ihr Herz auszuschütten. Mein Puls schnellt in die Höhe. Bitte lass es nicht das sein was ich denke.
„Ich kann sehr gut verstehen, wenn Sie nun rechtliche Schritte einleiten wollen. Doch bevor das der Fall sein sollte, wollte ich mich lieber persönlich melden", redet sie weiter, da niemand etwas antwortet. Ganz vorsichtig erhasche ich einen Blick auf meine Mutter. Sie sitzt so ruhig da wie ich es nur selten mitbekomme und aus irgendeinem Grund macht mir das sehr große Angst. 
"Natürlich kann man dir nichts vorwerfen, solltest du nun ein ganz anderes Bild von Noah haben", wendet sie sich nun an mich. Ich muss schwer schlucken. Wieso sollte es? Ich wusste ja bereits davor, dass er unser Leben öffentlich macht. Hat mich das jemals gehindert? Eigentlich nie. Es ist sogar der Ausgangspunkt weshalb ich mich in ihn verliebt habe.
"Ich habe das Kapitel noch gar nicht gelesen", gebe ich trocken zu. Auch wenn ich mir bereits denken kann, was in etwa er darin berichtet. Man sieht Noahs Mutter direkt an, dass sie nicht damit gerechnet hat. Ein leises Oh rutscht ihr heraus und ich bin mir sicher, dass es in ihrem Kopf gerade stark rattert. 
"Naja", winkt sie schlussendlich ab, "er hat etwas fantasiert. So wie Jugendliche halt sind, nur von den Hormonen gesteuert. Nur ist es natürlich nicht in Ordnung, dass er dies auf die Kosten eines anderen tut."
Die Röte schießt ihr ins Gesicht und schnell wendet sie den Blick ab. Verständlich in meinen Augen, ich weiß nämlich gar nicht, ob ich mich jetzt angesprochen fühlen soll bei dem Wort 'Jugendliche' oder ob ich nachhaken soll, was sie mit fantasieren meint. Vielleicht hat Noah ja mehr geschrieben als da wirklich war. Es juckt mich in den Fingerspitzen, dass ich gerade nicht komplett Bescheid weiß und ich würde in diesem Moment nichts lieber tun als in mein Zimmer rennen und das Kapitel lesen. 
"Denken Sie also, dass das Alles lediglich der Fantasie Ihres Sohnes entsprang?", fragt meine Mutter an meiner Stelle, als hätte sie meine Gedanken lesen können.
"Natürlich", fällt ihr Noahs Mutter beinahe ins Wort. Beinahe lautlos ziehe ich scharf Luft ein. 
"Ich meine, schon alleine die Vergangenheit ist ja eigentlich Beweis genug", versucht sie sich selber zu erklären, als sie bemerkt, dass erneut niemand etwas sagt, "mit Sarah, meine ich."
Die letzten Worte flüstert sie eher. Dabei waren sie vollkommen überflüssig. Es versetzt mir einen kurzen Stich, wie als würde ich eine Impfung erhalten. Auf verschwörerische Weise tauschen meine Mutter und sie vielsagende Blicke aus. Als würde mal wieder etwas über meinen Kopf hinweg geklärt werden. Doch noch bevor ihr Augengespräch in die nächste Runde gehen kann, bricht meine Mutter den Blickkontakt ab, schaut auf ihre Hände, welche sie in ihrem Schoß verschränkt hat und lächelt ganz kurz, allerdings so schwach, dass man es kaum als ein solches wahrnehmen kann: "Wir werden von einer Anzeige oder anderen Maßnahmen absehen. Ich bin davon überzeugt, dass die beiden das unter sich klären müssen. Sich da einzumischen würde vielleicht nur das Gegenteil bewirken."
Förmlich sichtbar fällt Noahs Mutter ein Stein von Herzen. Sie atmet tief ein: "Das erleichtert mich jetzt aber. Ich wollte Ihnen sicher keine Umstände bereiten, aber ja, da haben sie recht, ich bin froh, dass wir das so regeln können."
Aufmunternd lächelt sie mir zu und ich habe den Anschein, dass es das erste Mal seit Tagen für sie ist, dass sie wirklich unbeschwert lächeln kann.
"Dem kann ich nur zustimmen", erwidert meine Mutter kurz und lächelt ebenso. Jedoch sehe ich bei ihr direkt, dass besagter Stein bei ihr noch schwer auf dem Herzen liegt, "Ich möchte Sie jetzt auch nicht hetzen, aber ich habe gleich noch einen Termin."
Sofort springt Noahs Mutter euphorisch von ihrem Stuhl auf: "Natürlich, natürlich, ich möchte Sie ja nicht von irgendetwas abhalten."
Freundlicherweise begleitet meine Mutter sie noch zur Türe, wo sich Noahs Mutter noch einmal umschwänglich bedankt. Ich sitze immer noch still auf dem Sofa, als meine Mutter wieder von der Türe kommt, sich an den Türrahmen der Wohnzimmertür lehnt und mich geschafft von oben herab anschaut. Wir schauen uns einen Moment einfach nur an. 
"Das was Noah schrieb ist nicht nur in seiner Fantasie geschehen, oder?"
Ich wage nicht zu blinzeln und versuche den trüben Blick meiner Mutter zu deuten: "Nein."
Langsam beginnt sie zu nicken und bricht als Erster den Blickkontakt ab.
"Dachte ich mir bereits", nuschelt sie, wohl eher zu sich selber als zu mir, schaut mir dann aber wieder in die Augen und ich merke sofort, dass sie es bereits länger weiß. 
"Ich hoffe nur, dass es auch wirklich das ist, was dich glücklich macht."
Ihr schwaches Lächeln unterstreicht, dass es ihr doch etwas zu schaffen macht. Allerdings ist das bisschen an Lächeln auf ihren Lippen ernst gemeint und noch bevor ich etwas erwidern kann geht sie aus dem Zimmer und lässt mich alleine zurück.

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt