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Der Unterricht vergeht leider schneller als ich gehofft hatte und als ich nach der letzten Stunde auf den Schulhof trete, warten mein alter bereits im Auto auf mich. Ich stöhne laut auf. Ich habe wirklich gehofft, dass er es vergisst. So schnell wie möglich trete ich den Weg der Schande an und bemerke schon wieder, wie sich nach mir umgedreht wird. Hastig steige ich ein und schließe die Türe hinter mir. Mein Vater, mit einer Sonnenbrille auf der Nase, mustert mich kurz, spuckt seinen Kaugummi aus dem Fenster und legt dann den ersten Gang ein. Sollte er versuchen cool zu wirken, dann hat er gerade das Gegenteil bewirkt. Angewidert mustere ich ihn von der Seite, während er stur auf die Straße starrt. Es ist beinahe Winter und die Sonne steht mal wieder hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Welchen Zweck hat also die Sonnenbrille? Darauf ansprechen möchte ich ihn aber natürlich auch nicht. Wir schweigen uns einfach an. Nicht einmal ein „Wie war es in der Schule?" bekomme ich. Dabei wollte er ja, dass ich heute gehe. Zur Ablenkung schaue ich nach draußen. Das Wohngebiet, in welchem die Schule liegt, fliegt langsam an uns vorbei. Mal wieder fahren wir zu langsam. Doch als wir auf die Hauptstraße kommen, biegt er plötzlich auf die Autobahn ab.
„Wohin fährst du?", frage ich stutzig. Meinte meine Mutter nicht, dass ich einen Termin habe?
„Ich muss doch zum Doktor", füge ich deswegen verwirrt hinzu. Mein Vater lacht kurz auf.
„Für was denn? Damit die dich wieder verarschen können?"
Fragend schaue ich ihn an. Nach der Autobahneinfahrt gibt mein Vater auf einmal Gas, der Motot heult laut auf und ich kürzester Zeit haben wir die 100 erreicht.
„Nein, damit ich das Ganze selber verstehe", meine ich nur und weiß im Moment selber nicht, wieso ich diese Menschen auch noch verteidige. Sie waren es ja schließlich auch, die mein Leben auf einmal wieder auf den Kopf gestellt haben. Wobei... eigentlich war es ja doch eher Noah.
„Die wollen dir was einreden. Du glaubst doch nicht wirklich den Müll, den sie dir da erzählen, oder?", mault mein Vater, steckt seine Sonnenbrille in die Haare und schaut mich kurz eindringlich an.
„Hä, wie?"
Ich bin verwirrt und verstehe mal wieder nichts.
„Deine Mutter hat mir erzählt, was diese sogenannten Therapeuten herausgefunden haben", redet er weiter, dieses Mal zwar leiser aber dafür mit mehr Wut in der Stimme. Oder ist es eher Spott?
„Ich weiß gar nicht, wie viele psychische Störungen sie bei dir festgestellt haben."
Bei dem ‚festgestellt' deutet er mit einer Hand Anführungszeichen an.
„Die wollen doch nur Geld von der Krankenkasse. Du bist vor gut zwei Jahren ziemlich schlimm aus dem Kopf gefallen, lagst sicher eine Woche im Koma und als du aufgewacht bist, konntest du dich an nichts mehr erinnern."
Ich verenge meine Augen. Das wüsste ich ja wohl noch.
„Das ist doch genauso Mist", rutscht es mir unüberlegt heraus. Wütend schaut mich mein Vater von der Seite an.
„Ist ja klar, dass du den Worten von ihnen glaubst, die haben dich sicher hypnotisiert oder so einen Scheiß. Die manipulieren Menschen. Was denkst du wohl, wieso das ein gefragter Beruf ist? Weil die Patienten unersättlich sind. Man spricht ein paar Fachwörter und alle fressen einem aus der Hand, betteln nach Hilfe. Aber nicht mit mir und sicher nicht mit meinem Sohn."
Der Ton, in welchem mein Vater spricht, ist scharf. Sehr scharf sogar. Seine Ansichten stimmen in kleinster Weise mit meinen überein. Wie genau kommt er überhaupt auf so etwas?
„Hör zu, deine Mutter glaubt ihnen aufs Wort. Darum schleift sie dich dort auch hin. Aber seien wir doch ehrlich", spricht er weiter und wird mit einem mal wieder ruhiger, „du willst da doch gar nicht hin, oder?"
Mir wird immer unwohler. Natürlich hat er im letzten Punkt recht, aber irgendwie würde ich auch gerne mehr erfahren, alles, was mir mal wieder verheimlicht wird. Denn dass ich mich nicht mehr erinnern kann, das ist klar.
„Ja schon, aber ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen", werfe ich ein, merke aber selber, dass ich nicht überzeugend klinge.
„Und was sonst? Bist du einfach aufgewacht und hast alles vergessen? Das ist ja wohl an den Haaren herbeigezogen."
Mit einer Hand fuchtelt mein Vater in der Luft herum. Wir passieren gerade die Stadtgrenze und fahren auf der Autobahn immer weiter in das Industriegebiet.
„Ja, das klingt schon komisch, aber wieso weiß ich dann nicht, dass ich im Krankenhaus war?", hake ich nach, merke aber schon, dass mein Vater sehr davon überzeugt ist.
„Du hast es vergessen, ist doch klar. Nachdem du aufgewacht bist, haben wir dich sofort mit nach Hause genommen. Dir ging es wieder gut, bist wieder zur Schule gegangen, alles war wie immer."
Die Stimme meines Vaters wird immer leiser dafür aber auch sicherer.
Nein.
Das ist das einzige Wort, das gerade in meinem Kopf schwirrt. Es war nicht alles wie immer. Denn er hatte uns verlassen.
„Und wo warst dann du?", hauche ich fast und merke, wie mein Vater kurz verkrampft. Es dauert eine Weile, bis er antwortet. Oder eher, bis er sich eine Antwort überlegt hat.
„Deine Mutter und ich hatten ein paar Differenzen. Sie hatte wohl ein paar zu viele Überstunden bei ihrem Chef zuhause."
Ich lache leise auf. Wie auch immer er wieder auf so etwas kommt, aber meine Mutter ist sicher keine Betrügerin. Sie ist die treuste Person, die ich kenne.
„Ja, sicher", rufe ich aus den muss spöttisch lachen.
„Ja, ich habe es anfangs auch nicht geglaubt, aber als ich dann an einer Geschäftsfeier mit einer ihrer Kolleginnen ins Gespräch kam, wurde so einiges gelüftet", fantasiert er weiter und wirkt dabei melancholisch. Allerdings sieht man, dass dies nur eine Fassade ist. Mal davon abgesehen, dass ich mich an keine Geschäftsfeier meiner Mutter erinnern kann. Das hätte mir ja jemand gesagt. Oder hab ich das etwa auch schon wieder vergessen?
„Aber du konntest Sarah nicht leiden", frage ich weiter und beschließe, das Thema mit meiner Mutter erstmal außen vor zu lassen. Da werde ich erst einmal ihre Meinung suchen. Vielleicht hat sie mir ja wirklich etwas verschwiegen.
„Sarah? Wer ist Sarah?"
Stille. Erneut verenge ich meine Augen. Will er mich jetzt verarschen?
„Das ist nicht lustig."
„Was sollte lustig sein, das meine ich ernst", bestätigt er seine vorherige Aussage und sieht mich an. In seinem Gesicht steht ein deutliches Fragezeichen, seine Augen glitzern aber ein wenig.
„Ja, würde ich jetzt auch sagen."
Ungewollt fällt mir mein Traum wieder ein. In dem mein Vater mir sagte, dass so etwas nicht sein Sohn sei, als er mich wie einen alten Kaugummi auf die Straße geworfen hat. Habe ich das etwa auch nur geträumt? Das kann ich mit beim besten Willen nicht vorstellen. Es hat sich zu real angefühlt.
Kann ich überhaupt noch sagen, was real ist, und was nicht?
Bei der nächsten Ausfahrt fahren wir von der Autobahn und ich kann die Umgebung nicht identifizieren.
„Hör zu, das sage ich nur einmal", beginnt mein Vater und klingt dabei sehr ernst, „du hast keine psychische Störung und deswegen gehst du da nicht mehr hin. Ich möchte nicht, dass die dir noch mehr einreden. Irgendwann glaubst du es ja selber noch."
Mein Blick fällt auf meine Füße. Das Ganze hier kann nur ein Witz sein. Und er ist nicht lustig. Ich war doch mittlerweile so weit, dass mir so manches klarer erschien, dass ich Sachen verstand und gezielt hinterfragen konnte. Auch wenn die Antworten oft schleierhaft waren.
„Wir sind da."
Überrascht blicke ich auf. Viel Zeit zum Überlegen bekomme ich wohl nicht. Unglaublich starre ich auf das große Gebäude vor uns: „Was wollen wir hier?"
Mein Vater zieht die Handbremse an und lächelt ein wenig: „Deine Zweifel beseitigen."
Mit diesen Worten steigt mein Vater aus dem Auto auf und als ich es ihm nicht gleichtue, öffnet er mir sogar die Türe, allerdings nur mit einem drängenden komm. Ich zucke mit den Schultern und steige aus. Mehr Eindrücke bedeutet mehr Hinweise. Hinweise auf die Wahrheit. Ich weiß zwar nicht, was mein Vater mir hier beweisen möchte, aber nach Hause laufen kann ich ja auch schlecht. Als wir gerade durch die große Eingangstür laufen, fliegt mir der Satz von Yannick wieder in den Sinn. Ich solle mir von ihm nichts einreden lassen. Meinte er so etwas damit? Wusste er, dass mein Vater komische Ansichten hat und laut ihm mehr Ahnung hat als alle anderen?
„Niklas, darf ich dir vorstellen? Doktor Schmidt, er hat dich damals während dem Koma behandelt."
Verwirrt reiche ich dem Mann im weißen Kittel die Hand.
„Es freut mich, dass es dir wieder gut geht, es ist ja jetzt schon ein wenig her, dass wir uns gesehen haben", begrüßt mich der etwas ältere Mann mit einem warmen Grinsen. Irgendwoher kommt er mir bekannt vor. Oder rede ich mir das gerade nur ein? Ich starre an die Decke, die endlos zu sein scheint. Im Gegensatz zum Doktor kann ich mich an dieses Gebäude nicht mehr erinnern. Und es scheint mir auch viel zu ernst für ein Krankenhaus, in welches man Kinder bringt.

Das Leuchten des Mondes (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt