Kapitel 4

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Harper PoV.

Nachdem wir noch eine Weile geschwiegen und genauso lang nochmal Small Talk geführt hatten, brannten mir genau vier Wörter auf der Zunge. Aber vor diesen vier Wörtern hatte ich einen sehr großen Respekt. „Kann ich sie sehen?", fragte ich etwas schüchtern. „Aber natürlich.", antwortete Dr. Davis. „Ehrlich gesagt habe ich nur darauf gewartet, dass Sie es von selbst ansprechen, weil ich nicht zu voreilig sein wollte. Da Sie ja auch etwas Zeit brauchen, um das Ganze erstmal zu verarbeiten. Immerhin habe ich Ihnen gerade gesagt, dass wir ihre Schwester verloren haben und Sie jetzt Mutter sind." „Es ist schon in Ordnung. Irgendwann wird es leichter werden und ich sollte froh sein, dass wenigstens die Kleine überlebt hat." „Wahrscheinlich schon.", lächelte er leicht. „Also wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich die Kleine jetzt gerne mal sehen." „Aber natürlich. Folgen Sie mir."

Wir standen auf und liefen den langen Flur entlang. Nach schier endlosen Metern des Laufens hielten wir vor einer Tür an. Jetzt wurde es also ernst. Denk an deine Schwester, sie vertraut dir bei dem was du tust. Du durftest sie jetzt bloß nicht enttäuschen. Wir schaffen das, sagte ich mir immer wieder in Gedanken. Das hätte Maddie so gewollt. Schließlich betraten wir das Krankenhauszimmer und ich hielt automatisch die Luft an. Wir gingen noch ungefähr fünf Meter in das Zimmer rein, bis wir vor einem Babybett zum Stehen kamen. Darin lag eine winzig kleine Gestalt. Oh, man war sie klein. Von dem Baby war nicht besonders viel zu sehen, denn sie war in eine große rosa Decke eingewickelt. Aber das was ich sah, reichte, um mich erneut zu Tränen zu rühren. Sie sah so klein und zerbrechlich. Der Arzt nahm das kleine pinke Bündel aus dem Bett und legte es mir in meine Arme.

Dann zeigte er mir noch wie ich sie richtig zu halten hatte. „Sie müssen den Kopf stützen. Am besten Sie legen das kleine Köpfchen auf ihrem Arm ab." Um ihm zu zeigen, dass ich alles gehört hatte, nickte ich und antwortete ihm nur, „Vielen Dank nochmal für alles, was sie für mich und die Kleine getan haben." „Kein Problem, ich wünschte nur wir hätten mehr tun können. Vor allem für ihre Schwester.", fügte er mit einem traurigen Lächeln hinzu. „Sie können ja auch nichts dafür und ich glaube an das Schicksal und das unser aller Leben vorherbestimmt ist. Vielleicht sollte das alles so laufen. Jeder hat Höhen und Tiefen in seinem Leben, mit welchen er fertig werden muss. Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch und auch jetzt denke ich, dass wieder gute Zeiten kommen werden.", sagte ich zu ihm.

„Das hört sich doch vernünftig und sehr positiv an. Ich bewundere Sie für ihre Stärke, ihren Mut und ihre Zuversicht für die Zukunft. Halten Sie immer daran fest, auch in schweren Zeiten." „Danke." „Gerne. Ich lass euch dann mal allein." Ich nickte Dr. Davis als Einverständnis nur zu, da ich meine Augen von dem kleinen Geschöpf in meinen Armen nicht abwenden konnte. „Ein kleiner Tipp noch von mir, Sie können auch ihr T-Shirt ausziehen und sie dann in den Arm nehmen, dann spürt sie ihre Körperwärme und merkt, dass sie nicht allein ist." „Auch wenn ich mich wiederhole. Danke nochmal für alles, wirklich." Er nickte nur, bevor er sich umdrehte, um aus dem Raum zu gehen. „Ich lasse euch jetzt allein, damit ihr euch aneinander gewöhnen könnt und komm dann später nochmal vorbei." Bevor ich auch nur die Chance hatte zu antworten, war er schon aus dem Zimmer verschwunden.

Ich nahm mir seinen Tipp zu Herzen, legte sie vorsichtig in das Bett zurück, zog mir mein T-Shirt über den Kopf und hängte es über die Stuhllehne. Dann nahm ich sie aus der pinken Decke raus und legte sie mir an die Brust. Nachdem ich mich mit ihr wieder hingesetzt hatte, nahm ich mir die kleine Decke wieder und legte sie über die Kleine und mich. „Hey meine kleine Maus", sagte ich, während ich ihr mit einem Finger über die Wange strich. „Ich bin jetzt da und nichts wird uns mehr trennen. Gemeinsam schaffen wir das. Auch wenn ich nicht deine leibliche Mutter bin, werde ich dich behandeln, als wärst du meine eigene Tochter." Sie bewegte sich leicht, schlief aber dennoch weiter und kuschelte sich noch mehr an mich. Dabei streifte sie leicht über meine Narbe, was mich aber nicht weiter störte. Jedenfalls nicht bei ihr. Sie verstand es ja sowieso noch nicht.

Ich hatte keine Ahnung wie lange ich mit ihr auf dem Arm in dem Sessel saß und ihr über den Kopf und den Rücken streichelte, als plötzlich die Tür aufging und Dr. Davis wieder reinkam. „Entschuldigen Sie. Ich wollte euch nicht stören." „Nein ist schon in Ordnung.", erwiderte ich nur. „Ich wollte nur nochmal nach euch beiden sehen und mich vergewissern, ob alles in Ordnung ist." „Es ist alles super." Während ich mit dem Arzt sprach, hörte ich nicht auf die Kleine zu streicheln, um ihr das Gefühl zu geben, dass jemand für sie da war, der sie beschützte und sie hielt. Auch wenn ich zugeben musste, dass sie mir ebenfalls den nötigen Halt gab, welchen ich gerade brauchte, um die ganze Situation zu verarbeiten. „Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie schon einen Namen für die Kleine haben?" Ich überlegte kurz. Für den Arzt wahrscheinlich zu lang, da er zu mir sagte, „Ich kann auch später nochmal wiederkommen, wenn Sie noch nicht so weit sind."

Aber als ich sie mir erneut ansah und die kurzen hellbraunen Haare sah, war ich mir zu einhundert Prozent sicher, wie diese Maus heißen sollte. „Nein schon gut ich habe mich schon entschieden." In meinem Unterbewusstsein wusste ich ab dem ersten Moment, in dem ich sie gesehen hatte, schon wie sie heißen sollte. „Ich möchte sie Ava Madison Wilson nennen." Ava, weil meine Schwester immer von diesem Namen geschwärmt hatte und Madison einfach um meine Schwester und auch in gewisser Weise Noah in ihr weiterleben zu lassen. Ich könnte sie sowieso nie vergessen, aber ich glaube sie wäre sehr gerührt von meiner Idee gewesen und sie hätte ihr bestimmt gefallen. „Das ist ein sehr schöner Name.", als der Arzt das zu mir sagte, realisierte ich erst, dass ich so in meinen Gedanken vertieft war und ihn gar nicht weiter beachtet hatte. „Ich werde das Weiterleiten und nachher nochmal vorbeischauen."

„Ist in Ordnung." „Brauchen Sie sonst noch irgendetwas?", fragte er mich zuvorkommend. „Könnten Sie mir vielleicht ein Glas Wasser holen?" „Aber natürlich. Ich bin sofort wieder da. Möchten Sie auch eine Kleinigkeit zu essen haben?" „Wenn Sie schon so fragen, warum nicht und danke nochmal." „Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, dass es kein Problem ist." Ich lächelte ihn an, nickte nochmal bestätigend und schon war er wieder verschwunden und meine ungeteilte Aufmerksamkeit lag wieder auf meiner kleinen Ava.

Da ich im Moment mehr als zufrieden war, schloss ich wirklich nur ganz kurz meine Augen. Doch durch die Anstrengungen des ganzen Tages wurden meine Augenlider immer schwerer. Bis sie irgendwann zufielen und nicht mehr aufgingen.

The Fate of LifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt