Kapitel 9 - Donnerstag, 4. 8. (*1*)

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An der Klinik saß Tom in seinem Auto, noch immer liefen die Tränen.
Er konnte jetzt nicht nach Hause, er musste zu Sina, er brauchte heute Trost!

 Er hatte während der Ausbildung schon eingetrichtert bekommen, die Schicksale nicht zu nah an sich heranzulassen, meistens schaffte er es auch ganz gut, aber heute war er über seinem Limit!
Kurz entschlossen fuhr er auf die Autobahn, kam auf der Gegenspur an der Unfallstelle vorbei, sah, dass der Doktor noch immer mit den Polizisten sprach.
Um sieben stand er vor Sinas Türe und läutete.

Sina wurde von der Glocke aus den Tiefschlaf gerissen. Wahrscheinlich irgendein Paketdienst mit einer Lieferung für einen der Nachbarn, der schon in der Arbeit war.
„Komme!" rief sie, schlüpfte in ihren Morgenmantel, tapste barfuß die Treppe hinunter.
Als sie die Türe öffnete, erschrak sie und freute sich gleichzeitig.

„Tom!" rief sie überrascht. Er taumelte in den Flur, sie sah seine Tränen, nahm ihn in den Arm.
„Um Gottes willen, was ist denn passiert?" Sie führte ihn ins Wohnzimmer.
Er klammerte sich an sie, ließ den ganzen Schmerz heraus, redete, redete, heulte, redete!
„Ich konnte nicht nach Hause! Ich konnte nur zu dir!" Er entschuldigte sich nicht bei ihr, dass er sie geweckt hatte, er wusste, das war nicht nötig.

Sina streichelte sein Gesicht. Versuchte tröstende Worte zu finden, ließ es aber sein. Was sollte sie sagen? Phrasen, Plattitüden? Aber sie konnte zuhören!
Schließlich versiegte der Tränen- und der Wortstrom, er versuchte ein Lächeln. Sein Gesicht war verschwollen, und trotzdem war er der hübscheste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie küsste seine letzten Tränen fort.

„Möchtest du etwas essen oder trinken?" fragte sie leise.
„Nein, nur schlafen! Dich im Arm halten, schlafen und vergessen!" flüsterte er.
Im Bett zog er sie nah an sich, schloss die Augen.

Es ist schön, nach Hause zu kommen zu ihr! dachte er. Eigentlich wollte er ihr das sagen, aber er war schon eingeschlafen.
Sina lag neben ihm, hellwach. Sie fühlte seinen Körper an sich gepresst, seinen Herzschlag, seinen Atem in ihrem Nacken, und sie fühlte eine grenzenlose Liebe in sich. Er war zu ihr gekommen! Am dritten Tag, an dem sie sich kannten, war er in seiner tiefsten Verzweiflung zu ihr gekommen, in ihre Arme, um Trost zu suchen.

Dieser gutaussehend Mann, dieser nette, intelligente, humorvolle Mann liebte sie. Sie, Sina, die nichts Besonderes war, nicht aussah wie ein Model! Er hätte die schönsten Frauen der Stadt haben können, aber er wollte ausgerechnet sie! Vielleicht war doch mehr an ihr dran, als sie bisher geglaubt hatte.

Max hatte ihr zuletzt immer zu verstehen gegeben, dass sie eigentlich nur eine Nervensäge war, die zu viel redete, die lieber ins Konzert oder Theater wollte als auf den Handballplatz, die lieber durch die Gegend rannte als zu putzen oder zu bügeln! Die unfähig war, ihr Leben in den Griff zu bekommen ohne ihn, die ihm dankbar sein musste, dass er bei ihr blieb. So war der Tenor der letzten drei Jahre gewesen, und jetzt kam er wieder mit der Ich-bring-mich-um-Nummer, weil er seinen Kopf nicht durchsetzen konnte!

Tom drehte sich im Schlaf um, suchte aber dann nach ihr, fand sie nicht, drehte sich wieder um, fand, was er gesucht hatte, nahm sie aufseufzend wieder in den Arm.
Sina schossen die Tränen in die Augen, Tränen des Glücks und der Rührung. Er schlief sechs Stunden tief und fest, erschöpft und gefühlsmäßig vollkommen ausgelaugt.
Sina lag wach, schlief ein, lag wach. Der Arm auf dem sie lag, schlief ein, es war ihr egal. Auf jeden Versuch, sich aus seinen Armen zu befreien, reagierte er mit einem unwilligen Brummen, hielt sie noch fester.

Um ein Uhr konnte Sina nicht mehr, musste dringend zur Toilette, spürte einen Arm und ein Bein nicht mehr.
„Tom!" flüsterte sie. „Tom, lässt du mich bitte mal los?"
Er öffnete ein Auge, fühlte sie in seinem Arm, fühlte, wie fest er sie hielt. Loslassen? dachte er. Niemals in meinem ganzen Leben lasse ich dich wieder los!
„Vergiss es!"

Es lohnt sich zu kämpfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt