Kapitel 137 - 2014

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Kurz nach Neujahr erreichte Sina der Hilferuf des Jugendamtes. Ein sechsjähriges Mädchen, Mona, war nach dem Tod der Mutter, einer alkoholabhängigen Frau, in einem Zimmer eingesperrt gefunden worden. Schwer vernachlässigt, körperlich unterentwickelt war sie ins Heim gekommen. Sie sprach wie eine Zweijährige, konnte sich kaum auf etwas konzentrieren, ihr Blick irrte wild von einem Punkt zum anderen. Aber sie war nicht aggressiv, sondern extrem liebesbedürftig.

Als Tom mittags nach Hause kam, erzählte sie ihm von dem Anruf. Er verzog sorgenvoll sein Gesicht. Seine Krabbe hatte gerade erst wieder ins Leben zurückgefunden, sollte sie sich eine so große Belastung aufladen?
Aber er hielt sich zurück, dachte an Phillip, wie falsch er damals gelegen war.
„Wir sollten sie einmal besuchen!" schlug er vor. Ihr Gesicht begann zu strahlen, da wusste er, dass die Entscheidung wohl schon gefallen war. Sie war ein Muttertier, und je verletzter ein Kind war, desto mehr würde sie es lieben.

Sie baten Sophia, die Kleinen von der Schule abzuholen und machten sich auf den Weg zum Heim.
Vor dem Beobachtungsfenster blieben sie stehen.
Mona saß im Spielzimmer in einer Ecke, schaukelte vor und zurück. Im Arm hielt sie eine Stoffpuppe, redete in Babysprache auf sie ein, küsste sie dabei ununterbrochen ab.
Plötzlich warf sie die Puppe auf den Boden.
„Böse!" rief sie. „Böse! Du böse! Du böse!"
Sie krabbelte wieder hin, hob sie auf, streichelte sie.
„Brav!" sagte sie liebevoll. „Du ganz brav! Mama lieb!"

Sina liefen die Tränen übers Gesicht, Tom nahm sie tröstend in den Arm.
Mona war viel zu klein für ihr Alter, die dunklen Augen waren zu groß für das winzige Gesicht, und sie waren vor allem viel zu traurig.

Sina griff nach Toms Hand, zog ihn mit ins Zimmer. Doch Mona erschrak vor dem großen Mann, hielt die Hände vors Gesicht. Tom ging wieder hinaus.
Sina setzt sich ruhig auf einen Sessel. Die Kleine nahm erst eine Hand weg, dann die zweite.
„Mama?" Sina wusste nicht, ob Mona nach ihrer Mutter fragte, oder ob sie glaubte, dass sie ihre Mutter sei.

Sie hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Sina, du bist Mona."
„Sina." Wiederholte das Mädchen das neue Wort. „Sina! Sina! Sina!"
„Ich bin Sina!"
„Ich bin Sina!" wiederholte das Kind.
„Du bist Mona!"
„Du bist Mona!" sprach das Mädchen nach. Plötzlich begriff es.
„Ich bin Mona! Du bist Sina!" Sie lachte, klatschte in die Hände.

Sina lächelte, klatschte auch.
„Ich bin Mona! Du bist Sina!" wiederholte das Kind, lachte wieder.
„Ich heiße Sina!"
„Ich heiße Mona!" Sie klatschte wieder. Sie hatte Spaß daran gefunden, richtig zu sprechen. Dumm oder gar behindert schien sie nicht zu sein.
Der Heimleiter trat neben Tom, beobachtete Sina eine Weile. Dann sah er den jungen Mann ernst an. Er wusste von dem Drama in seiner Familie, wollte aber keine Wunden aufreißen.

„Haben wir Eltern für Mona gefunden?" fragte er.
„Wenn Sinas pädagogischen Erfahrungen ausreichen!" Tom hatte die Worte des Heimleiters nicht vergessen.
Der Ältere lächelte, erinnerte sich an seine zweifelnden Worte damals. „Wie macht sich Phillip?" fragte er nach.

„Es geht so!" scherzte Tom lächelnd. „Er ist Solosänger bei den Domspatzen, ein begnadeter Klavierspieler, Klassenbester seit seiner Einschulung! Technisch sehr begabt, beliebt bei Alt und Jung, ein echter Schatz!"
Der Heimleiter freute sich sehr darüber, was aus ihrem einstigen Sorgenkind geworden war.

Sina kam heraus. „Tom, kommst du noch mal rein?" bat sie.
Er folgte ihr. Mona sah ihn vorsichtig an, versteckte sich aber nicht mehr hinter ihren Händen.
„Das ist Tom!" erklärte Sina.
„Das ist Tom!" wiederholte Mona. „Tom lieb?"
„Ja, Tom ist sehr lieb!"
„Tom ist sehr lieb!"

Er ging in die Hocke. „Hallo, Mona!" sagte er.
„Hallo, Tom!" antwortete sie.
Er rückte ein bisschen näher. Mona schloss die Augen. „Mona Angst!" sagte sie leise. Er rückte wieder zurück. Sie öffnete die Augen wieder.
„Tom ist sehr lieb!" sagte die Kleine.

Es lohnt sich zu kämpfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt